Rz. 6

Im Bereich des Internationalen Gesellschaftsrechts ist in den vergangenen Jahren kein Stein auf dem anderen geblieben.[5] Die früher nahezu unangefochtene Sitztheorie hat die Rechtsbeziehungen einer Gesellschaft dem nach ihrer Auffassung sachnächsten Recht des Ortes unterstellt, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsakte umgesetzt werden.[6] Die Gründungstheorie will die Gesellschaft dagegen derjenigen Rechtsordnung zuweisen, nach der sie gegründet und ausgestaltet worden ist und in der sie ihren statutarischen Sitz hat.[7] Daneben gibt es zahlreiche vermittelnde Ansichten.[8] Dieser früher rein kollisionsrechtliche Diskurs erreichte spätestens zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit der Rechtsprechungsentwicklung des EuGH seit Centros[9] eine europarechtliche Dimension.

 

Rz. 7

Sämtliches innerstaatliche Recht, Sach- und Kollisionsrecht, steht unter dem Vorbehalt der Vereinbarkeit mit den Europäischen Grundfreiheiten, namentlich der Niederlassungsfreiheit der Art. 49, 54 AEUV.[10] Nach Art. 49 Abs. 2 AEUV "umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen, insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 Absatz 2, nach den Bestimmungen des Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen". Art. 49 Abs. 1 Satz 1 AEUV statuiert in diesem Umfang die sog. primäre Niederlassungsfreiheit, wonach Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen und Gesellschaften i.S.v. Art. 54 AEUV eines Mitgliedstaates in dem Hoheitsgebiet eines anderen verboten sind. Art. 49 Abs. 1 Satz 2, 54 AEUV untersagt Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften und enthält damit die sog. sekundäre Niederlassungsfreiheit. Die Niederlassungsfreiheit hat sich auf das deutsche Internationale Gesellschaftsrecht dergestalt ausgewirkt, als die bislang vorherrschende Sitztheorie zugunsten der Gründungstheorie weitestgehend aufgegeben werden musste.

[5] Vgl. Weller, IPRax 2009, 202 ff.
[6] Grundlegend Sandrock, FS Beitzke, 1979, S. 669, 683; vgl. auch BGHZ 97, 272; MüKo/Kindler, IntGesR, Rn 423 ff.
[7] Staudinger/Großfeld, IntGesR Rn 20; MüKo/Kindler, IntGesR, Rn 362 ff.
[8] Ein guter Überblick findet sich bei Michalski/Leible, GmbHG, SystDarst. 2 Rn 11 ff.
[10] Vgl. insbesondere im Hinblick auf das Gesellschaftsrecht Behrens, IPRax 2003, 196; Eidenmüller, JZ 2004, 25; Zimmer, NJW 2003, 3585, 3588; Ulmer, NJW 2004, 1201, 1205 m.w.N.

1. Sitztheorie als Mobilitätshindernis

 

Rz. 8

Zwar geben die Art. 49, 54 AEUV, die keinen spezifisch kollisionsrechtlichen Gehalt haben, die Geltung der Gründungstheorie nicht positiv vor; sie bedingen aber die Nichtanwendbarkeit solcher Rechtsnormen, die sich als Einschränkung der Niederlassungsfreiheit erweisen. Nach dem sehr weit gefassten Begriffsverständnis des EuGH erweisen sich solche Maßnahmen als eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die deren Ausübung unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen.[11] Damit hat der EuGH über das bereits im Wortlaut von Art. 49 AEUV enthaltene Diskriminierungsverbot ein umfassendes Beschränkungsverbot aufgestellt.[12] Allerdings greift die Niederlassungsfreiheit in Abgrenzung zur Kapitalverkehrsfreiheit nur im Falle von Beteiligungen, die einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft vermitteln, was ab einer Beteiligungsquote von 10 % jedenfalls zu prüfen ist.[13] Nur hingewiesen sei an dieser Stelle auf die Anwendungserstreckung von Art. 19 Abs. 3 GG auf Gesellschaften aus dem EU-Ausland, so dass diese im Inland als grundrechtsfähig anzusehen sind.[14]

 

Rz. 9

Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit kann sich im Falle von Gesellschaften grundsätzlich aus der Anwendung eines vom Gründungsrecht unterschiedlichen Gesellschaftsrechts sowie aus sonstigen Bestimmungen des nicht mit dem Gründungsrecht identischen inländischen Rechts ergeben.[15] Da bei der Gründung einer ausländischen Kapitalgesellschaft die deutschen Vorschriften, insbesondere diejenigen über die Kapitalaufbringung, nicht beachtet werden, kann diese ausländische Kapitalgesellschaft der Sitztheorie folgend nicht als eben solche für rechts- und parteifähig anerkannt werden. Sind die Gründungsregelungen des Sitzstaates nicht eingehalten, versperrt die Sitztheorie im Wesentlichen das kapitalgesellschaftsrechtliche Privileg der Haftungsbeschränkung[16] und stellt die ausländische Gesellschaft mit inländischem Verwaltungssitz vor das Dilemma, sich entweder nach deutschem Recht neu zu konstituieren oder sich einem abweichenden Haftungsregime ausgesetzt zu sehen.[17] Die Anwendung des Sitzrechts kann deshalb rechtliche Hürden für eine Niederlassung im Inland aufstellen oder aufgrund seiner Ausgestaltung eine abschreckende Wirkung zeitigen. Mithin entpuppt sich die aus der Sitztheorie folgende Anwendbarkeit des inländischen Gesellschafts-, insbesondere des Grü...

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