Rz. 71

Die Haftung nach § 2 Abs. 1 HaftpflG betrifft nur Wirkungen, die von einer Anlage, nämlich einer

Stromleitungsanlage,
Rohrleitungsanlage für Gase, Dämpfe oder Flüssigkeiten
oder einer Anlage zur Abgabe der bezeichneten Energien oder Stoffe ausgeht oder auf dem Zustand einer solchen Anlage beruht. Diese Aufzählung ist abschließend,[251] so dass andere "gefährliche" Anlagen nicht der Haftung nach § 2 HaftpflG unterliegen.
 

Rz. 72

Eine Anlage ist eine technische Einrichtung im weitesten Sinne[252] mit einer gewissen Selbstständigkeit. Mangels Selbständigkeit sind keine Anlage in diesem Sinne einzelne Masten einer Hochspannungsleitung[253] oder Kanalschächte und Kanaldeckel eines Abwasserkanals.[254] Sie sind aber Teile der übergeordneten technischen Einrichtung. Die Anlage muss Elektrizität, Gase, Dämpfe oder Flüssigkeiten leiten oder abgeben.

 

Rz. 73

Gase sind alle Elemente oder chemischen Verbindungen, die in ihrem normalen Zustand gasförmig sind. Zu ihnen gehören deshalb sämtliche Gase, auch wenn sie keine Energieträger sind, sowie Flüssiggase und Gasgemische. Luft soll nach teilweiser Meinung nicht zu den Gasen im Sinn des § 2 HaftpflG gehören, weil sie weder nach dem allgemeinen noch nach dem fachlichen Sprachgebrauch als Gas angesehen wird.[255] Diese Ausnahme ist nicht gerechtfertigt; Luft zählt zu den Gasen i.S.d. § 2 Abs. 1 HaftpflG, der auf die möglichen Wirkungen des geleiteten Mediums abstellt.[256] Sie besteht zwar als Gasgemisch aus verschiedenen gasförmigen Stoffen mit schwankenden Anteilen. Der Norm ist jedoch nicht zu entnehmen, dass allein Gase in chemisch reinem Zustand und keine Gasgemische erfasst werden sollen.[257] Ansonsten entspricht das Gefahrenpotenzial rohr- bzw. schlauchgeleiteter Luft – insbesondere unter Druck – dem ähnlicher Gasgemische, so dass für Schäden infolge rohrgeleiteter Luft die Haftung nach § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftpflG greift. Für Wärmeleitungen, die Heißluft leiten, wird im Schrifttum die Haftung nach § 2 Abs. 1 HaftpflG überwiegend bejaht.[258] Dem ist zuzustimmen, denn die durch Wärmeleitungen begründeten Risiken unterscheiden sich nicht danach, ob die Energie durch Wasser, Wasserdampf oder Heißluft transportiert wird. Deshalb ist nicht ersichtlich, weshalb die Haftung im Geltungsbereich des § 2 HaftpflG danach differenzieren soll, wie der Wärmeträger chemisch zusammengesetzt ist. Es gibt keinen tragenden Grund für einen haftungsrechtlich bedeutsamen Unterschied zwischen rohrgeleiteter Heiß- und Kaltluft, weil die Haftung nach § 2 Abs. 1 HaftpflG nicht von den Eigenschaften des geleiteten gasförmigen Stoffes abhängt.

 

Rz. 74

Zu den Flüssigkeiten zählen auch Öl und Ölprodukte,[259] Chemikalien,[260] Abwasser und Niederschlagswasser[261] sowie durch eine Rohrleitung transportierter Flüssigbeton, solange er geleitet werden kann.[262]

 

Rz. 75

Die Anlage muss der Leitung oder Abgabe der genannten Stoffe dienen. Für Energieanlagen folgt diese Bestimmung insoweit bereits aus § 3 Nr. 15 Energiewirtschaftsgesetz. Die Anlage muss zu diesem Zweck nach ihrer objektiven Beschaffenheit und der Anordnung des Inhabers der Anlage bestimmt sein. Ob die Anlage zu den in § 2 Abs. 1 Satz 1 HaftpflG genannten gehört, entscheidet sich nach dem überwiegenden Zweck der Anlage und im Zweifel nach der Verkehrsauffassung und dem Grad der Gefährlichkeit.[263] Eine eigenmächtige oder zufällige Verwendung der Anlage zur Leitung oder Abgabe unterstellt sie nicht der Haftung nach § 2 Abs. 1 HaftpflG.[264]

 

Rz. 76

Eine Leitungsanlage dient dem Transport der Energien oder Stoffe. Die Leitung muss in der Form eines Strömungsvorganges erfolgen,[265] bei Gasen, Dämpfen oder Flüssigkeiten in verrohrter Form, wie aus dem Gesetzeswortlaut (Rohrleitungsanlage) zwingend folgt. Eingefasste offene Gräben oder Kanäle scheiden damit aus dem Anwendungsbereich der Anlagenhaftung aus.[266] Ist die Anlage teils verrohrt, teils offen, bestimmt sich die Haftung nach der Beschaffenheit der Stelle, die die Schadensursache gebildet hat.[267] Unerheblich ist, ob die Stoffe durch Druck, Schwerkraft oder anderen Einfluss in Strömung geraten. Für die Praxis sehr bedeutsam sind kommunale Kanalisationsanlagen,[268] für deren Anlagenhaftung eine umfangreiche Judikatur insbesondere des Bundesgerichtshofes besteht. Das Regenfallrohr einer Autobahnbrücke ist hingegen keine Rohrleitungsanlage.[269]

 

Rz. 77

Zu den Anlagen gehören die ihnen zugeordneten Nebeneinrichtungen. Zu Stromleitungsanlagen gehören etwa Umform- und Umspannanlagen und Schalteinrichtungen nebst Zubehör, zu Gasleitungen Druckregler, Druckminderer und Druckerhöhungsstationen[270] und zu Wasserleitungen Kanalschächte, Kanaldeckel und Hydranten.[271] Ob sich Teile der Anlage im Eigentum anderer befinden, ist für die Anlagenhaftung unerheblich.[272] Die Haftung bei Zusammenfassung mehrerer Anlagen bestimmt sich danach, ob sie ihre Selbstständigkeit behalten oder bei einheitlicher Gesamtgewalt zu einer einheitlichen Anlage werden.[273] Stehen mehrere Anlagen miteinande...

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