Rz. 37

Vorbereitungshandlungen stellten nach früherer Rechtsprechung des BAG keine Entlassung dar. Für Mitarbeiter mit besonderem Kündigungsschutz, deren Arbeitsverhältnis erst nach Einholung der erforderlichen behördlichen Zustimmung gekündigt werden kann, kamen die §§ 17 ff. KSchG deshalb nicht zur Anwendung, wenn der Ausspruch der Kündigung nach Zustimmungserteilung durch die Behörde nicht mehr in den zeitlichen Zusammenhang einer Massenentlassung fiel. Die arbeitsmarktpolitische Zielsetzung des Massenentlassungsschutzes wurde durch die damit verbundene verträgliche Verteilung der Kündigungen über einen längeren Zeitraum als erfüllt angesehen.[103]

 

Rz. 38

Nach Auffassung des BVerfG stellt diese Betrachtungsweise allerdings bei Arbeitnehmern, die sich in Elternzeit befinden, eine mit Art. 3 und 6 GG nicht zu vereinbarende Benachteiligung dar. Insbesondere bei einer Betriebsstillegung werde die behördliche Zustimmung zu der Kündigung regelmäßig erteilt, so dass sich daraus für Personen, die nach dem Willen des Gesetzgebers besonders schutzwürdig sind, ein geringeres Schutzniveau ergebe. Demnach müssten aus verfassungsrechtlichen Gründen Personen mit besonderem Kündigungsschutz, deren Kündigungen allein deshalb außerhalb des 30-Tage-Zeitraums zugeht, weil zuvor ein anderes behördliches Verfahren durchgeführt werden musste, das keinen dem Massenentlassungsschutz gleichwertigen Schutz bietet, so behandelt werden wie Arbeitnehmer, auf deren Kündigung § 17 KSchG Anwendung findet.[104]

 

Rz. 39

Mit diesen Vorgaben zur verfassungskonformen Auslegung des § 17 Abs. 1 KSchG hat das BVerfG den nationalrechtlichen Entlassungsbegriff für bestimmte Personen mit Sonderkündigungsschutz gegenüber den unionsrechtlichen Vorgaben noch erweitert.[105] Für diesen Personenkreis stellt deshalb nicht (nur) der Zugang der Kündigung, sondern (auch) der Eingang des Antrags auf Zustimmung zur Kündigung bei der zuständigen Behörde die Entlassung i.S.v. § 17 Abs. 1 KSchG dar.[106]

 

Rz. 40

 

Hinweis

Personen mit Sonderkündigungsschutz sind deshalb in das Konsultationsverfahren einzubeziehen und in die Massenentlassungsanzeige aufzunehmen. Dabei sind der Antrag auf Zustimmung zu der Kündigung und die Kündigung selbst als jeweils eigenständige Entlassung anzusehen.[107] Sofern der Ausspruch der Kündigung nach Erteilung der Zustimmung erneut in einen Massenentlassungskontext fällt, ist der Arbeitnehmer deshalb erneut in die Massenentlassungsanzeige aufzunehmen.

 

Rz. 41

Für welchen Personenkreis diese Erweiterung des Entlassungsbegriffs gilt, ist noch nicht abschließend geklärt. Sie wird neben Arbeitnehmern, die Elternzeit in Anspruch nehmen, zwanglos auch auf Arbeitnehmerinnen übertragen werden können, die sich im Mutterschutz befinden.[108] Ausgehend von der auf Art. 3 und 6 GG beruhenden Argumentation des BVerfG dürften zudem auch Arbeitnehmer, die aufgrund einer Schwerbehinderung oder einer familiären Pflegesituation Sonderkündigungsschutz genießen, entsprechend zu behandeln sein.[109] Ob diese Vorgaben des BVerfG zu einem verfassungskonformen Entlassungsbegriff allgemein für alle Massenentlassungen gelten oder nur für Betriebsstilllegungen, bei denen die Zustimmung regelhaft erteilt wird, ist ebenfalls offen;[110] da das BVerfG allerdings das generell hohe Schutzniveau der §§ 17 ff. KSchG betont hat, liegt es nahe, den erweiterten Entlassungsbegriff bei ­jeder Massenentlassung zugrunde zu legen.

 

Rz. 42

 

Hinweis

Die Einholung der Zustimmung zur Kündigung einer schwangeren Arbeitnehmerin im Rahmen einer Massenentlassung verstößt nicht gegen die Richtlinie 92/85/EWG (Mutterschutz).[111] Sie ist deshalb nicht als unzulässige Vorbereitungshandlung i.S.v. § 17 Abs. 1 S. 3 MuSchG anzusehen.[112]

[104] BVerfG v. 8.6.2016 – 1 BvR 3634/13; zur Kritik an dieser Rechtsprechung vgl. Bezani, in: FS Willemsen, 2018, S. 57.
[105] Laskawy, EWiR 2016, 711.
[107] Bezani, in: FS Willemsen, 2018, S. 62.
[108] Bezani, in: FS Willemsen, 2018, S. 60.
[109] Schaub/Linck, § 142 Rn 13; Bezani, in: FS Willemsen, 2018, S. 59.
[110] BAG v. 26.1.2017 – 6 AZR 442/16; zweifelnd bereits für § 18 BEEG bei bloßen Betriebsänderungen Hexel, DB 2016, 2486; ebenso Bezani, in: FS Willemsen, 2018, S. 58.
[111] EuGH v. 22.2.2018 – C-103/16, Poras Guisado.
[112] Evermann, NZA 2018, 550.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge