Rz. 32

Das EGBGB enthält in den Art. 13–24 eine Vielzahl von Kollisionsnormen für die einzelnen Bereiche des Familienrechts. Diese verwenden unterschiedliche Systembegriffe (z.B. "allgemeine Wirkungen der Ehe" in Art. 14 EGBGB), die den Gegenstand der kollisionsrechtlichen Anknüpfung bezeichnen. Die Zuweisung einer auftretenden rechtlichen Frage zu einer bestimmten familienrechtlichen Kollisionsnorm (die Qualifikation) ist regelmäßig so unproblematisch, dass die juristische Subsumtion kaum bemerkt wird. Bisweilen bereitet sie aber erhebliche Probleme. Das gilt z.B. dann, wenn die betreffenden Fragen in zwei verschiedenen Systembegriffen verankert sind.

 

Rz. 33

Dies gilt umso mehr, als die kollisionsrechtlichen Systembegriffe sich mit den Begriffen des materiellen Rechts nicht unbedingt decken müssen (wie z.B. die Frage nach den erbrechtlichen Wirkungen einer Adoption oder die Qualifikation des Verbots von Gesellschaftsverträgen unter Eheleuten im französischen Recht als allgemeine oder güterrechtliche Wirkung der Ehe) oder aber es sich um dem deutschen Recht unbekannte Erscheinungen handelt (z.B. Trennung von Tisch und Bett, Morgengabe).

 

Rz. 34

Im methodischen Vorgehen ist hier noch vieles streitig, in einzelnen Fragen ist man von gemeinsamen Ergebnissen noch weit entfernt. Mittlerweile ist dabei aber zumindest theoretisch allgemein anerkannt, dass die Systembegriffe autonom auszulegen seien. Die Auslegung der deutschen Kollisionsnormen folgt den Ordnungskriterien des deutschen Rechts also auch dann, wenn ausländisches materielles Recht in Rede steht und diese ausländische Rechtsordnung die entsprechende Frage unter einen anderen Systembegriff fassen würde (die Qualifikation erfolgt also als lege fori-Qualifikation und nicht nach der lex causae).[61]

Beispiel: Im niederländischen Recht ist die Ehe auch gleichgeschlechtlichen Paaren geöffnet worden. Daraus folgt für den niederländischen Richter die Zuordnung zur eherechtlichen Kollisionsnorm. Da nach dem System des deutschen IPR aber die heterosexuelle Ehe unter Art. 13 EGBGB, die homosexuelle eheähnliche registrierte Verbindung aber unter den kollisionsrechtlichen Begriff der eingetragenen Lebenspartnerschaft fällt, gilt aus deutscher Sicht – ohne Rücksicht auf das Etikett, das ihr aufgeklebt worden ist – das gem. Art. 17b EGBGB bestimmte Recht (siehe im Einzelnen Rdn 333).[62]

 

Rz. 35

Die Qualifikation erfolgt aber auch in der Weise autonom, als sie sich von den Begriffen und der systematischen Einordnung des materiellen deutschen Rechts (also im BGB) löst. Man gesteht dem Internationalen Privatrecht zu, dass es seine eigene Systematik entwickelt (sog. funktionelle Qualifikation), damit eng zusammengehörende Fragen nach demselben Recht abgehandelt werden können und die notwendige Flexibilität erreicht wird, um auch dem deutschen materiellen Recht unbekannte oder neu hinzugefügte Institute erfassen zu können.[63] Der BGH hatte dies einmal dahingehend ausgedrückt, dass es "die dem deutschen Richter obliegende Aufgabe sei, die Vorschriften des ausländischen Rechts nach ihrem Sinn und Zweck zu erfassen, ihre Bedeutung vom Standpunkt des ausländischen Rechts zu würdigen und sie mit Einrichtungen der deutschen Rechtsordnung zu vergleichen. Auf der so gewonnenen Grundlage sei sie den aus den Begriffen und Abgrenzungen der deutschen Rechtsordnung aufgebauten Merkmalen der deutschen Kollisionsnorm zuzuordnen."[64]

Beispiel: Die Zuständigkeit des Standesbeamten für die Eheschließung oder die Höchstpersönlichkeit der Abgabe der Willenserklärung bei der Eheschließung wird im deutschen internationalen Privatrecht als Frage der Form behandelt, so dass Deutsche in Italien nach dem dort geltenden Ortsrecht (Art. 11 Abs. 1 Fall 2 EGBGB) auch vor dem Priester bzw. unter Einschaltung eines Boten heiraten können. Im deutschen materiellen Recht hingegen werden diese Fragen als materielle Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Eheschließung behandelt.

[61] Für Letztes dagegen insb. Martin Wolff, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 1954, S. 54 ff.
[62] Str., wie hier Erman/Hohloch, 15. Aufl. 2017, Art. 17b EGBGB Rn 6; Henrich, FamRZ 2002, 138; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 343; und nun auch: OLG München FamRZ 2011, 1506; BFH IPRax 2006, 287. Eine Qualifikation lege causae verfolgen in diesem Zusammenhang aber Staudinger/Gebauer, IPRax 2002, 277; Röthel, IPRax 2002, 497.
[63] Siehe z.B. BGHZ 47, 336; v. Bar/Mankowski, Internationales Privatrecht I, 2. Aufl. 2003, § 7 Rn 173; Kropholler, Internationales Privatrecht, 6. Aufl. 2006, S. 127; Rauscher, Internationales Privatrecht, 3. Aufl. 2009, Rn 463; Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl. 2004, S. 346 ff.; MüKo-BGB/von Hein, 7. Aufl. 2018, Einl. IPR Rn 118 ff.
[64] BGHZ 29, 137, 139; BGH NJW 1967, 1177; später: BGH NJW 1999, 574 (Qualifikation einer Morgengabe).

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