a) Zeitpunkt der Erstbemessung und der Neubemessung

 

Rz. 15

Der BGH sieht eine strikte Trennung von Erst- und Neubemessung vor. Dabei sei für die Erstbemessung als Zeitpunkt der Tag des Ablaufs der Invaliditätseintrittsfrist (bei den AUB 2014 also 15 Monate nach dem Unfalltag) maßgebend, für die Neubemessung wohl der Tag drei Jahre nach dem Unfall. Ob auf zwei Jahre nach dem Unfall bei einer ersten Neubemessung nach 24 Monaten abzustellen sei, ist offen. Der Bemessungszeitpunkt dürfe aber nicht gleich sein.

Für die Erstbemessung sei für Grund und Höhe auf den Erstbemessungszeitpunkt abzustellen, was bedeutet, dass immer eine retrospektive Betrachtung erfolgt. Bei der Betrachtung darf jeder Aspekt herangezogen werden, der bis zum Abschluss der letzten mündlichen Verhandlung offenbar wird. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass unvorhersehbare Gesundheitsveränderungen keine Berücksichtigung finden.

Auch sei bei einer Klageerhebung vor Ablauf der Neufeststellungsfrist der Klage immer ein Neubemessungsbegehren und eine Forderung für den gesamten Zeitraum immanent. Dies lässt Fragen offen, ob der durchschnittliche VN tatsächlich eine so verstandene Trennung zwischen Erst- und Neubemessung erkennen kann. Vielmehr könnte man auch argumentieren, dass der VN stets die gesamte Invalidität beanspruchen möchte.

Auch bleibt für die in den AUB verankerte Vorschussregelung bei der Sichtweise des BGH kein sinnvoller Raum mehr.

 

Hinweis

Für die AUB 2014 kann dies jedoch nicht gelten, da dort festgeschrieben wurde, dass für Erst- und Neubemessung auf den Zeitpunkt drei Jahre nach dem Unfall abzustellen ist, Ziff. 2.1.2.2 AUB 2014.

b) Systematik der Gliedertaxe

 

Rz. 16

Die Gliedertaxe ist seit jeher Bestandteil der AUB und steht in den Grundzügen nicht zur Diskussion. Seit geraumer Zeit wurde aber die Auffassung vertreten, dass bei einer in mehrere Teilbereiche eingeteilten Extremität nicht auf den Gesamtwert dieser Extremität abgestellt werden soll, sondern nur auf den betroffenen Anteil der Gesamtextremität. Gemeint sind solche Gliedertaxen, die wie z.B. die AUB 2014 Formulierungen wie "Arm", "Arm bis oberhalb des Ellenbogengelenks", "Arm unterhalb des Ellenbogengelenks" aufweisen. Hier soll z.B. bei einer Fraktur im Bereich der Mitte des Unterarms nicht auf den Arm insgesamt, sondern nur auf den Bereich "Arm unterhalb des Ellenbogengelenks" abgestellt werden. Dieser Auffassung hat sich der BGH mit seiner Entscheidung vom 1.4.2015[10] grundsätzlich angeschlossen.

[10] BGH v. 1.4.2015 – IV ZR 104/13, zfs 2015, 450; früher schon z.B. LG Berlin v. 19.6.2013 – 23 O 236/11, VersR 2014, 577.

c) Sitz der Schädigung

 

Rz. 17

Der BGH hat in früheren Entscheidungen für die Invaliditätsbewertung auf den Sitz der Schädigung abgestellt. Ob damit der Sitz der primären Verletzung, also der Erstkörperschädigung, gemeint sei, oder der Sitz der Auswirkung (der Verletzung) wurde unterschiedlich interpretiert.

Mit der Entscheidung vom 1.4.2015[11] stellt der BGH am Beispiel der dort zu entscheidenden Schulterverletzung klar, dass er auf den Sitz der Verletzung abstelle und damit im konkreten Fall auf die Beeinträchtigung der (isoliert zu betrachtenden) Schulter, nicht aber auf die Auswirkung am Arm.

Diese Ansicht ist insbesondere dann problematisch, wenn z.B. eine Nervenschädigung an der Wirbelsäule zu einer Beeinträchtigung einer Extremität führt. Hier wird in der Praxis nach dem Gliedertaxewert abgerechnet, nicht nach dem Wert außerhalb der Gliedertaxe, da der Sitz der Nervenschädigung an der Wirbelsäule selbst gar keine funktionelle Beeinträchtigung hervorruft.[12]

[12] Vgl. Naumann/Brinkmann, § 5 Rn 53; dem folgend Grimm, Nr. 2 Rn 26.

d) Einordnung der Schulter

 

Rz. 18

Die Sicht des BGH[13] auf die Schulter ist aus medizinischer Sicht richtig, denn die Schulter gehört anatomisch nicht zum Arm.[14] Für die Invaliditätsbewertung ist dies aber eng mit der Bedeutung des Sitzes der Schädigung verbunden, denn bei dem Verständnis, dass auf den Sitz der (primären) Verletzung abzustellen sei, befindet man sich dann nicht mehr im Bereich der Gliedertaxe.

Keine Aussage trifft der BGH zu der Frage, ob damit der Versicherungsschutz für Schulterverletzungen durch erhöhte Kraftanstrengungen generell ausscheidet.

[14] Ausführlich Naumann/Brinkmann, VersR 2015, 1360.

e) Progression

 

Rz. 19

In der Entscheidung vom 18.11.2015[15] hat der BGH für die dort vereinbarte Progressionsstaffel entschieden, dass für die Progressionsberechnung der Invaliditätsgrad kaufmännisch zu runden sei. Die dort vereinbarte Progressionsstaffel basiert auf einer Tabelle, die lediglich die vollen Prozentpunkte der Invalidität in den abzurechnenden Leistungsprozentsatz umsetzt. Die Entscheidung ist daher mit Vorsicht zu genießen, da es eine Vielzahl anders formulierter Progressionsstaffeln gibt,[16] die dieser Auslegung nicht zugänglich sind.

[15] BGH v. 18.11.2015 – IV ZR 124/15, zfs 2015, 456 = BGHZ 208, 9.
[16] Vgl. z.B. Naumann in: FS für Heidrich, S. 103.

f) Unfallkausalität

 

Rz. 20

In der Entscheidung vom 19.10.1016[17] hat der BGH sich zu Fragen der Kausalität zwisch...

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