Rz. 426

Der Krankheitsbegriff ist weit auszulegen und entspricht den entsprechenden Begriffen im Sozialversicherungs- und Beamtenrecht. Krankheit ist danach ein "objektiv fassbarer regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf".[727] Der Krankheit stehen Gebrechen oder Schwächen der körperlichen oder geistigen Kräfte gleich.

Gebrechen sind von der Regel abweichende körperliche oder geistige Zustände, mit deren Dauer für nicht absehbare Zeit zu rechnen ist,[728] beispielsweise Taubheit, Blindheit, körperliche Behinderungen, aber auch Altersabbau, geringe Intelligenz, Schwachsinn und sonstige, nicht kompensierbare Persönlichkeitsstörungen.[729]

Auch Suchterkrankungen ohne Verschuldensaspekt, z.B. durch Alkohol, Drogen oder Medikamente,[730] fallen hierunter,[731] sofern sie dazu führen, dass der Unterhaltsberechtigte infolge der dadurch hervorgerufenen Willensschwäche keine geregelte Erwerbstätigkeit durchhalten könnte.[732] In gleicher Weise trifft dies für Übergewicht[733] oder Magersucht[734] zu.

Wegen des weiten Krankheitsbegriffs des § 1572 BGB ist auch eine Depression eine Erkrankung mit der möglichen Folge eines Unterhaltsanspruchs nach § 1572 BGB. In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob die Depression im Zusammenhang mit der Ehe oder als Folge der Trennung und Scheidung entstanden ist. Zu unterscheiden ist aber eine lediglich depressive Verstimmung, die in der Regel vorübergehender Natur ist, von der schweren, ggf. rezidivierenden Depression.[735] Lediglich die letztere Art der Depression ist geeignet, einen Unterhaltsanspruch nach § 1572 BGB zu begründen.[736]

Unter den Krankheitsbegriff des § 1572 BGB fallen auch Personen, die in Folge einer seelischen Störung, z.B. einer Neurose, erwerbsunfähig sind. In Fällen von Renten- und Unterhaltsneurosen flüchten sich Unterhaltsberechtigte aus Angst, ihren Renten- oder Unterhaltsanspruch zu verlieren, in eine Krankheit. Als Krankheit i.S.d. § 1572 BGB sind solche seelischen Störungen dann anzusehen, wenn sie aus eigener Kraft nicht überwindbar sind.[737]

 

Rz. 427

Die Erkrankung muss langfristig angelegt sein. Bei kurzfristigen Erkrankungen besteht in der Regel bei Erwerbstätigen ein Anspruch auf Lohnersatzleistungen wie Krankengeld etc. Soweit und solange solche Leistungen gewährt werden, besteht kein Anspruch nach § 1572 BGB. Unfallrenten haben neben dem Entschädigungscharakter auch Lohnersatzfunktion, so dass sich ihre Zahlung bedarfsmindernd auswirkt.

Die Krankheit des Berechtigten muss ursächlich dafür sein, dass keine Erwerbstätigkeit ausgeübt werden kann. Der ursächliche Zusammenhang bedarf sorgfältiger Prüfung, da nicht ausgeschlossen werden kann, dass eine medizinische Wahrheit nicht gerechtfertigte Untätigkeit auf Kosten des ehemaligen Ehegatten über einen Unterhaltsanspruch finanziert wird.[738]

Kann der Berechtigte in Folge von Krankheit seinen ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben, demgegenüber jedoch einen anderen Beruf, der eine angemessene Erwerbstätigkeit darstellt, besteht ein Anspruch aus § 1572 BGB nicht. Zumutbarkeitsmaßstab ist die angemessene Erwerbstätigkeit.[739]

[729] OLG Bamberg FamRZ 2000, 231, 232.
[730] OLG Düsseldorf FamRZ 1987, 1262; OLG Hamm FamRZ 1989, 631; OLG Schleswig OLGR 2001, 248.
[731] BGH FamRZ 1988, 375; Foerste, FamRZ 1999, 1245.
[732] Büte/Poppen/Menne/Botur/Büte, § 1572 Rn 3.
[733] OLG Köln FamRZ 1992, 65.
[734] Bamberger/Roth/Hau/Poseck/Beutler, 4. Aufl. 2019, § 1572 Rn 2.
[736] OLG Hamm FamRZ 1995, 996.
[737] Ausführlich dazu Wendl/Dose/Bömelburg, § 4 Rn 241.
[738] BGH FamRZ 1984, 353, 356.
[739] BGH NJW-RR 1993, 898, 901; OLG Düsseldorf FamRZ 2003, 683.

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