Rz. 148

Nach ganz überwiegender Ansicht[190] ist das Gericht bei Vorliegen der Voraussetzungen der Verspätung und der Verzögerung nicht zu einer Zurückweisung verpflichtet. Es stehe vielmehr im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, ob es die Angriffs- und Verteidigungsmittel zurückweise oder nicht ("können").

 

Rz. 149

Dabei besteht über die Ermessenskriterien keine Einigkeit, häufig fehlt jegliche Angabe. Teilweise[191] wird gefordert, das Gericht müsse den Nachteil, den die Verzögerung des Verfahrens für den Gegner des verspätet Vortragenden mit sich bringe, abwägen im Vergleich zu dem Nachteil, der dem verspätet Vortragenden durch die Zurückweisung seines Vorbringens drohe. Andere[192] meinen, das Gericht habe im Rahmen des Ermessens sowohl das Parteiverhalten, insbesondere den Grad der Nachlässigkeit, als auch die Prozesslage, also das voraussichtliche Gewicht der Angriffs-oder Verteidigungsmittel für den Prozess, die Bedeutung des Prozessgegenstandes für die Parteien, das Prozessstadium und das Ausmaß der voraussichtlichen Verzögerung zu berücksichtigen.

 

Rz. 150

Demgegenüber versteht eine vordringende, in der Sache zutreffende Ansicht[193] konkret zu § 296 Abs. 2 ZPO "können" als Einräumung einer Rechtsmacht. Nach dieser Ansicht muss bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Präklusionsvorschrift zurückgewiesen werden, da sonst das Gebot der prozessualen Waffengleichheit nicht gewahrt und außerdem nicht zu erkennen sei, welche das Ermessen leitenden Erwägungen der Richter noch anstellen solle. Die von der überwiegenden Ansicht genannten Ermessenskriterien sind nämlich bereits bei dem Tatbestandsmerkmal der groben Nachlässigkeit zu berücksichtigen.[194] Hiergegen spricht auch nicht die Regelungsabsicht der Gesetzgeber.[195] Es handelt sich bei den Ausführungen zu § 296 Abs. 2 ZPO, die Zurückweisung verspäteten Vorbringens solle bewusst in das Ermessen des Gerichts gestellt werden, um diesem eine flexible Handhabung im Rahmen seiner Entscheidung zu ermöglichen, nicht um die Regelungsabsicht der Gesetzgeber. An diese sowie die Zwecke des Gesetzes und die ihnen zugrunde liegenden Wertentscheidungen der Gesetzgeber ist der Richter bei der Auslegung des Gesetzes grundsätzlich gebunden. Das gilt indessen nicht für die näheren Normvorstellungen der an der Vorbereitung und Abfassung des Gesetzes beteiligten Personen – um solche handelt es sich aber hier. Soweit sich solche Vorstellungen aus den vor Entwürfen, Sitzungsberichten und Begründungen entnehmen lassen, stellen sie eine wertvolle Hilfe für das Verständnis des Norminhalts dar. Sie stellen aber nicht den Willen des eigentlichen Gesetzgebers dar und sind daher für den Ausleger auch nicht verbindlich.[196]

§ 115 S. 1 FamFG ist daher ebenso wie § 296 Abs. 2 ZPO so auszulegen, dass im Falle des Vorliegens seiner Tatbestandsvoraussetzungen eine Zurückweisung erfolgen muss. Der Wortlaut ist also nur im Sinne der Einräumung einer Rechtsmacht zu verstehen.[197]

 

Rz. 151

 

Praxistipp

Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens erfolgt in den Gründen des Beschlusses (wie in reinen ZPO-Verfahren in den Entscheidungsgründen des Urteils).[198] Es besteht kein durchsetzbarer Anspruch auf Zurückweisung verspäteten Vorbringens, ebenfalls kann keine gesonderte, isolierte Entscheidung über das nicht rechtzeitige Vorbringen der Angriffs- und Verteidigungsmittel durch einen eigenständigen[199] Beschluss verlangt werden.

Die Zurückweisung bewirkt, dass das konkret zurückgewiesene Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht berücksichtigt wird, d.h., der betroffene Beteiligte wird in der Sachentscheidung so behandelt, als habe er den als verspätet angesehenen[200] Sachvortrag nicht geleistet. Es ist vom Gericht in dem Beschluss jeweils konkret zu begründen, weshalb das Angriffs- oder Verteidigungsmittel als verspätet[201] zurückgewiesen worden ist. Eine unterbliebene Zurückweisung kann nicht nachgeholt werden. Die rechtswidrige Zulassung nicht rechtzeitig vorgebrachter Angriffs- und Verteidigungsmittel beseitigt die Zurückweisungsvoraussetzung[202] der drohenden Verzögerung.

Die Rechtskraftwirkung des Beschlusses erfasst auch das als nicht rechtzeitig zurückgewiesene Angriffs- und Verteidigungsmittel. Das Fehlen der nötigen Voraussetzungen einer Zurückweisung, kann nur mit den gegen die Endentscheidung gegebenen Rechtsmitteln geltend gemacht werden.

[190] Bork/Jacoby/Schwab/Löhing, § 115 Rn 13; Musielak/Borth, § 115 Rn 6; Prütting/Helms/Helms, § 115 Rn 12; Thomas/Putzo/Hüßtege, § 115 Rn 5; Zöller/Lorenz, § 115 Rn 5; zu § 296 Abs. 2: BGH NJW 1981, 2255; NJW 1980, 343, 344; Musielak/Huber, § 296 ZPO Rn 29.
[191] Zöller/Lorenz, § 115 Rn 5; Völker, MDR 2001, 1325, 1326, der insgesamt dafür plädiert, in der Regel von einer Präklusion abzusehen.
[192] Stein/Jonas/Leipold, § 296 ZPO Rn 148 f.
[193] Weth, Die Zurückweisung verspäteten Vorbringens im Zivilprozess, 1988, 291 ff.; MüKo-ZPO/Prütting, § 296 Rn 181 mit umfangreichen weiteren Nachweisen.
[194] MüKo-ZPO/Prütting, § 296 Rn 180; MüKo-F...

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