Rz. 63

Im Zivilverfahren und im Strafverfahren gelten unterschiedliche Maßstäbe zur Begutachtung der Fahrlässigkeit. Im Strafverfahren sind, soweit es um die Frage geht, ob der Angeklagte fahrlässig gehandelt hat, die persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Beschuldigten ausschlaggebend.[80]

Zitat

"Richtig ist allerdings der Ausgangspunkt des Amtsgerichts, daß von einem Kraftfahrer verlangt werden muß, sich stets auch vor Antritt einer Fahrt zu vergewissern, ob er nach seinen körperlichen und geistigen Fähigkeiten überhaupt (noch) im Stande ist, den Erfordernissen des Straßenverkehrs zu genügen (…). Das Amtsgericht hat sich jedoch damit begnügt, seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten insoweit lediglich auf eine Reihe von Fahrverhaltensfehlern zu stützen, die dem Angeklagten – anscheinend bei einem Fahrversuch, dessen Bedingungen das Amtsgericht jedoch nicht mitgeteilt hat (…) – unterlaufen sind. Das war jedoch unzulässig, weil ein Erfahrungssatz des Inhaltes, ein Kraftfahrer sei stets zu gehöriger Selbstprüfung und dazu in der Lage, eigene Fehler und gegebenenfalls seine eigene Fahruntüchtigkeit zu erkennen, nicht besteht. Vielmehr richtet sich die Frage, ob der Angeklagte in der Lage war, die objektive Sorgfaltspflichtverletzung zu vermeiden und die Tatbestandsverwirklichung vorauszusehen, nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, nach seiner Intelligenz und Selbstkritik (…), wobei die Anforderungen an die gebotene Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle allerdings umso schärfer sind, je eher der Kraftfahrer nach Lage der Dinge mit einer Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit rechnen muss."[81]

 

Rz. 64

Anders sind die Verhältnisse im Zivilrecht. Hier gilt für die Frage des Fahrlässigkeitsvorwurfes ein objektivierter Beurteilungsmaßstab.[82]

Zitat

"Das Berufungsgericht geht zunächst zutreffend davon aus, dass nach § 276 I BGB, der von der im Verkehr "erforderlichen" Sorgfalt spricht, für die Prüfung, ob sich ein Tun und Unterlassen als fahrlässig erweist, ein objektivierter Beurteilungsmaßstab gilt. Es kommt deshalb darauf an, ob die Sorgfalt beobachtet worden ist, die nach den Erfordernisses des Verkehrs in der konkreten Lage erwartet werden muss; die persönliche Eigenart des Handelnden, seine Fähigkeiten, Kenntnisse und Erfah­rungen sind für die Beurteilung am standardisierenden Maßstab des § 276 I BGB grundsätzlich ohne Bedeutung. Dabei ist wegen der Verkehrserwartung auf die Verhältnisse der betroffenen Berufsgruppe oder des jeweiligen Verkehrskreises abzuheben, mithin auf das Maß von Umsicht und Sorgfalt abzustellen, das von einem Menschen in der Rolle erwartet werden kann und muss, in der der Betroffene im Verkehr auftritt (BGH NJW 1988, 909). Da – anders als im Strafrecht – im Rahmen des hier anwendbaren § 276 BGB kein individueller, sondern ein auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichteter objektiver Sorgfaltsmaßstab gilt, entlastet es die Beklagten nicht, daß der Beklagte zu 1) mit 19 Jahren zur Unfallzeit noch Fahranfänger war (…)."[83]

Während im Strafverfahren somit besonders schlechte oder besonders gute Leistungen des Beschuldigten zu berücksichtigen sind, kommt es im Zivilrecht hierauf nicht an. Es gilt immer der Maßstab, den der Durchschnitt der Gruppe, der der Betroffene angehört, zu erfüllen vermag.

[80] BGH Urt. v. 17.11.1994 – 4 StR 441/94, NZV 1995, 157, 158; BayObLG Beschl. v. 16.1.1996 – 1St RR 215/95, DAR 1996, 152.
[81] BayObLG Beschl. v. 16.1.1996 – 1 StRR 215/95, DAR 1996, 152.
[82] BGH Urt. v. 4.11.2003 – VI ZR 28/03, NJW 2004, 777; Urt. v. 12.2.2008 – VI ZR 221/06, NJW 2008, 1381; ausführlich zur Kausalität und zur Beweislast: Heß/Burmann, in: Berz/Burmann/Heß, Kapitel 6A, Rn 2 ff.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge