Rz. 278

BGH, Urt. v. 31.1.2012 – VI ZR 43/11, zfs 2012, 436 = VersR 2012, 734

Zitat

BGB § 823 Abs. 1; StVG § 7; VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

a) Der Halter eines Kraftfahrzeugs, der sich der polizeilichen Festnahme durch Flucht unter Verwendung seines Kraftfahrzeugs entzieht, haftet unter dem Gesichtspunkt des Herausforderns sowohl nach § 823 Abs. 1 BGB als auch nach § 7 StVG für einen bei der Verfolgung eintretenden Sachschaden an den ihn verfolgenden Polizeifahrzeugen, wenn dieser Schaden auf der gesteigerten Gefahrenlage beruht und die Risiken der Verfolgung nicht außer Verhältnis zu deren Zweck stehen.
b) Dies gilt auch in Fällen, in denen der Fahrer eines Polizeifahrzeugs zum Zwecke der Gefahrenabwehr vorsätzlich eine Kollision mit dem fliehenden Fahrzeug herbeiführt, um es zum Anhalten zu zwingen.
c) Der Anspruch auf Ersatz des dabei an den beteiligten Polizeifahrzeugen entstandenen Sachschadens kann nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG auch als Direktanspruch gegen den Haftpflichtversicherer des Fluchtfahrzeugs geltend gemacht werden.

a) Der Fall

 

Rz. 279

Der Versicherungsnehmer der Beklagten entzog sich mit dem von ihm geführten und bei der Beklagten haftpflichtversicherten VW Golf in Baden-Württemberg einer Verkehrskontrolle. Dabei verletzte er eine Polizeibeamtin. Einsatzkräfte der Polizei des Landes Baden-Württemberg nahmen daraufhin die Verfolgung auf und ab der Anschlussstelle H an der BAB auch die Polizei des Landes Hessen, des Klägers. Der Versicherungsnehmer der Beklagten fuhr zwischen 180 und 200 km/h, wechselte dabei mehrfach die Fahrstreifen und nutzte auch den Standstreifen. Um den Flüchtigen zu stoppen, entschloss sich die hessische Polizei, den Verkehr auf der BAB an der Anschlussstelle D zu verlangsamen, indem zwei Dienstfahrzeuge mit geringer Geschwindigkeit die beiden Fahrstreifen befuhren und ein Lkw-Fahrer, den die Polizei um Hilfe ersucht hatte, mit seinem Sattelzug auf gleicher Höhe langsam auf dem Standstreifen fuhr. Da alle drei Fahrstreifen damit blockiert waren, wurde der herannahende Versicherungsnehmer der Beklagten gezwungen, abzubremsen. Er versuchte, zwischen den beiden Polizeifahrzeugen hindurchzufahren. Bei diesem Versuch wurde er von einem weiteren hessischen Polizeifahrzeug von hinten gerammt, sodass er zwischen den beiden die linke und die rechte Fahrspur blockierenden Polizeifahrzeugen durchgeschoben wurde. Das Fluchtfahrzeug wurde sodann von einem weiteren Fahrzeug des klagenden Landes an die Mittelleitplanke abgedrängt und gestoppt. Der Versicherungsnehmer der Beklagten wurde vorläufig festgenommen.

 

Rz. 280

Mit seiner Klage machte das Land Hessen gegen den Haftpflichtversicherer des Fluchtfahrzeugs den an seinen vier Polizeifahrzeugen entstandenen Schaden und weitere Kosten in Höhe von ca. 17.000 EUR geltend. Das Landgericht hat der Klage fast in vollem Umfang stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht in Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Klage in vollem Umfang abgewiesen. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision begehrte der Kläger die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils.

b) Die rechtliche Beurteilung

 

Rz. 281

Das Berufungsurteil hielt revisionsrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts konnte ein Schadensersatzanspruch des klagenden Landes wegen des Schadens an den Polizeifahrzeugen nicht deshalb verneint werden, weil die Polizeibeamten die entstandenen Schäden dadurch selbst verursacht haben, dass sie das Fluchtfahrzeug vorsätzlich rammten, um die Verfolgungsjagd zu beenden.

 

Rz. 282

Das Berufungsgericht hatte zunächst übersehen, dass ein Direktanspruch gegen den beklagten Haftpflichtversicherer nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG auch wegen einer unerlaubten Handlung ihres Versicherungsnehmers im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB in Betracht kam, wenn diese "durch den Gebrauch" des versicherten Kraftfahrzeugs erfolgt war.

 

Rz. 283

Nach § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG kann der Dritte seinen Anspruch auf Schadensersatz auch gegen den Versicherer geltend machen, wenn es sich um eine Haftpflichtversicherung zur Erfüllung einer nach dem Pflichtversicherungsgesetz bestehenden Versicherungspflicht handelt. Die Zulässigkeit einer Direktklage des Klägers gegen die Beklagte setzt mithin voraus, dass er einen Schadensersatzanspruch geltend macht, der im Rahmen der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung von der Beklagten gedeckt werden muss. Die Vorschrift des § 1 PflVG verpflichtet den Halter eines Kraftfahrzeugs, eine Haftpflichtversicherung zur Deckung der "durch den Gebrauch des Fahrzeugs" verursachten Personenschäden, Sachschäden und sonstigen Vermögensschäden abzuschließen und aufrechtzuerhalten. An das Pflichtversicherungsgesetz knüpft § 10 Abs. 1 AKB an, wo es heißt, dass die Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung diejenigen Schäden deckt, die "durch den Gebrauch des im Vertrag bezeichneten Fahrzeugs" verursacht worden sind.

 

Rz. 284

Der Begriff des Gebrauchs schließt den Betrieb des Kraftfahrzeugs im Sinne des § 7 StVG ein, geht aber auch ...

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