Rz. 7

Die durch Art. 6 Abs. 1 EUV in Bezug genommene Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh)[7] kodifiziert Grund- und Menschenrechte im Rahmen der Europäischen Union. Sie wurde ursprünglich vom ersten Europäischen Konvent unter dem Vorsitz von Roman Herzog erarbeitet. Mit der Charta sind die EU-Grundrechte erstmals umfassend schriftlich und in einer verständlichen Form niedergelegt. Inhaltlich orientiert sich die GRCh in wesentlichen Teilen an der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten des Europarats (EMRK).[8] Sie ist aber auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu den Grundrechten als allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts geprägt.[9] Rechtsverbindlichkeit erlangte die zur Eröffnung der Regierungskonferenz von Nizza am 7.12.2000 feierlich proklamierte Charta[10] aufgrund des Widerstandes mehrerer Mitgliedstaaten aber zunächst nicht. Auch das Scheitern des Europäischen Verfassungsvertrages schob eine ausdrückliche Inkraftsetzung der in ihr enthaltenen Grundrechte auf. All dies hinderte die Europäischen Gerichte indes nicht, die noch nicht verbindliche Charta bereits als Rechtserkenntnisquelle zu nutzen.[11] Im Zuge der jüngsten Vertragsverhandlungen ist die GRCh dann ein weiteres Mal am 12.12.2007 feierlich proklamiert worden und konnte so zeitgleich mit dem EUV und dem AEUV in der Fassung des Lissabonner Vertrages zum 1.12.2009 endlich in Kraft treten. Eine Rückwirkung ist ihr trotz der von den meisten Mitgliedstaaten nicht gewollten Verzögerung indes nicht beizumessen.[12]

 

Rz. 8

Die GRCh ist – wie Art. 6 Abs. 1 EUV unschwer zu entnehmen ist – Teil des Rechts der Europäischen Union. Sie ist jedoch nicht Bestandteil der Verträge i.S.d. Art. 1 Abs. 2 Satz 2 AEUV, sondern bleibt ein eigenständiges Dokument neben ihnen.[13] Dies ändert aber nichts an ihrer Rechtsverbindlichkeit für die Union selbst und auch die meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Das Vereinigte Königreich und Polen haben die Geltung der Grundrechtecharta für sich allerdings in einem Protokoll zum Vertrag von Lissabon[14] ausgeschlossen.

 

Rz. 9

Für den Schutz von Daten – von Anfang an ein Anliegen des Konvents[15] – enthalten Art. 7 und Art. 8 GRCh besondere Garantien. Art. 7 GRCh lautet:

 

Art. 7

Achtung des Privat- und Familienlebens

Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung sowie ihrer Kommunikation.

 

Rz. 10

Diese Norm ist Art. 8 Abs. 1 EMRK nachgebildet und soll den gleichen Gewährleistungsinhalt haben.[16] Um aber den Herausforderungen der sich entwickelnden europäischen Informationsgesellschaft mit ihren gegenwärtigen und künftigen technischen Neuerungen genügen zu können, entschloss sich der Konvent auch zur Aufnahme eines "innovativen" Grundrechts zum Schutz personenbezogener Daten.[17] Gegenüber der durch Art. 7 GRCh gewährleisteten Achtung des Privat- und Familienlebens ist Art. 8 GRCh für Fragen des Datenschutzes daher lex specialis.[18] Dort heißt es:

 

Art. 8

Schutz personenbezogener Daten

(1) Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.
(2) Diese Daten dürfen nur nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke und mit Einwilligung der betroffenen Person oder auf einer sonstigen gesetzlich geregelten legitimen Grundlage verarbeitet werden. Jede Person hat das Recht, Auskunft über die sie betreffenden erhobenen Daten zu erhalten und die Berichtigung der Daten zu erwirken.
(3) Die Einhaltung dieser Vorschriften wird von einer unabhängigen Stelle überwacht.
 

Rz. 11

Es dürfte den Befürchtungen einiger Mitgliedstaaten geschuldet sein, ihnen werde durch die GRCh ein überbordender Grundrechtskatalog aufgebürdet, dass in Art. 6 Abs. 1 EUV bereits auf Primärrechtsebene eine Auslegungsvorgabe gemacht wird. Insoweit verweist nämlich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV ausdrücklich auf die Erläuterungen zur GRCh.[19] Denen zufolge ist das Datenschutzgrundrecht an den bereits zuvor existierenden Normen des Art. 286 EG (nunmehr Art. 16 AEUV/Art. 39 EUV), der Richtlinie 95/46/EG,[20] Art. 8 EMRK und der Konvention des Europarats Nr. 108[21] orientiert. Ferner ist Grundlage die VO (EG) Nr. 45/2001.[22]

Bei den Erläuterungen zur GRCh handelt es sich um eine Rechtserkenntnisquelle, nicht aber um eine echte Rechtsquelle.[23]

Ob durch die Bezugnahme der Erläuterungen zur Charta auf die dort genannten Sekundärrechtsakte diese auf die Ebene des Primärrechts gehoben werden, ist in der Literatur umstritten,[24] im Ergebnis aber wohl zu verneinen. Die auch im Recht der Europäischen Union feststellbare Normenhierarchie sieht das Primärrecht über dem Sekundärrecht. Das Sekundärrecht kann das Primärrecht und insbesondere dort normierte Grundrechte nicht einschränken.[25] Auch die in den Erläuterungen genannten Rechtsakte stellen daher lediglich eine Erkenntnisquelle für den Inhalt des Datenschutzgrundrechts dar.[26] Der von Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV geforderten Auslegung der Charta unter "gebührender Berücksichtigung" der Erläuterungen k...

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