Rz. 35

Die gewählte oder durch die objektive Anknüpfung sich ergebende Arbeitsrechtsordnung wird durch Art. 9 Rom I-VO (ehemals Art. 34 EGBGB) ergänzt. Danach bleibt von den Art. 3 ff. Rom I-VO (ehemals Art. 27 ff. EGBGB) die Anwendung der Bestimmungen des deutschen Rechts unberührt, die ohne Rücksicht auf das im Vertrag anzuwendende Recht den Sachverhalt zwingend regeln. Also auch wenn der Arbeitsvertrag grds. ausländischem Recht unterfällt, bleiben bestimmte Normen des deutschen Rechts anwendbar. International zwingendes Recht i. S. d. 9 Rom I-VO (ehemals Art. 34 EGBGB) ist nicht bereits jedes Gesetz zum Schutz des Arbeitnehmers. Es ist erforderlich, dass die Norm nicht den Ausgleich zwischen individuellen Parteiinteressen regeln will, sondern darüber hinaus aus Gemeinwohlinteressen unbedingt Geltung verlangt[1] oder doch seinen internationalen Geltungswillen deutlich zum Ausdruck bringt.

Die besondere Zielrichtung der Vorschrift ist oftmals schwer zu bestimmen, denn ob der gesetzliche Urlaubsanspruch eher dem Erholungsinteresse des Arbeitnehmers oder sozialpolitisch der Volksgesundheit zuzuordnen ist, ist eine Wertungsfrage, über die sich lange streiten lässt.[2] Nur aber wenn mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Schutz eines öffentlichen Interesses tragender Beweggrund der Norm ist, ist eine Sonderanknüpfung geboten.[3]

Rechtsprechung existiert kaum.[4]

Diskutiert wird die Anwendung des Art. 9 Rom I-VO (ehemals Art. 34 EGBGB) für die Regelung des Kündigungsschutzes für Betriebsorgane Schwerbehinderter und Schwangerer[5], für die Pflicht zur Zahlung des Mindestlohns[6], für § 10 AÜG[7] und die Diskriminierungsverbote des AGG[8].

Keine zwingende Wirkung beansprucht demgegenüber der allgemeine Kündigungsschutz (§§ 114 KSchG), da die Regelungen nach dem individualrechtlichen Konzept des deutschen Kündigungsschutzrechts in erster Linie dem Ausgleich eines Konflikts zwischen Privatleuten und nur mittelbar sozialpolitischen Zwecksetzungen dienen.[9] Keine zwingende Wirkung haben auch die Regelung zum Betriebsübergang nach § 613a BGB[10], dem Zustimmungserfordernis bei der Kündigung eines schwerbehinderten Menschen nach § 168 SGB IX (§ 85 SGB IX a. F.)[11] oder die Pflicht des Arbeitgebers zur Entgeltfortzahlung an gesetzlichen Feiertagen nach § 2 Abs. 1 EFZG[12].

[1] S. BAG, Urteil v. 7.5.2020, 2 AZR 692/19, NZA 2021, 225; BAG, Urteil v. 24.8.1989, 2 AZR 3/89, AP Internationales Privatrecht: Arbeitsrecht Nr. 30; Staudinger/Magnus, 31.12.2022, Art. 8 Rom I-VO , Rz. 193.
[2] S. auch Schlachter, NZA 2000, 57, 62.
[3] S. auch BAG, Urteil v. 24.3.1992, 9 AZR 76/91, AP Internationales Privatrecht: Arbeitsrecht Nr. 28.
[4] Zusammenfassend zur spärlichen Fallpraxis: ErfK/Schlachter, VO (EG) 593/2008 Art. 9 Eingriffsnormen, Rz. 23.
[5] Vgl. ErfK/Schlachter, VO (EG) 593/2008 Art. 9 Eingriffsnormen, Rz. 24; ferner BAG, Urteil v. 5.11.2010, 10 Sa 109/10, NZA 2012, 1152, 1154 (noch zu Art. 34 EGBGB).
[6] ErfK/Franzen, MiLoG § 20, Rz. 1.
[7] Dauses EU-WirtschaftsR-HdB, R. Europäisches Internationales Privatrecht, Rz. 227.
[9] BAG, Urteil v. 7.5.2020, 2 AZR 692/19, NZA 2021, 225, 230.
[10] BAG, Urteil v. 29.10.1992, 2 AZR 267/92, AP Internationales Privatrecht: Arbeitsrecht Nr. 31; BAG, Urteil v. 24.8.1989, 2 AZR 3/89, AP Internationales Privatrecht: Arbeitsrecht Nr. 30.

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