Entscheidungsstichwort (Thema)

Angemessenheit des Maßstabes

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Das Erfordernis des angemessenen Maßstabes für die Beitragsberechnung soll eine möglichst gerechte Belastung aller Beitragspflichtigen gewährleisten. Welchen angemessenen Maßstab der Versicherungsträger anwendet, bleibt ihm überlassen. Bei der Prüfung der Angemessenheit des Maßstabes soll die Relation zwischen Unfallgefahr und Praktikabilität einerseits und den Auswirkungen des zu wählenden Maßstabes auf die Beiträge andererseits beachtet werden.

2. Für Unternehmen ohne Bodenwirtschaft, zu denen ua die Jagden gehören, regelt die Beitragsleistung nach RVO § 805 die Satzung. Diese muß auch den Maßstab für die Berechnung der Beiträge bestimmen (RVO § 798 Nr 1).

3. Neben der Jagdfläche kann der Jagdwert grundsätzlich als ein angemessener Maßstab angesehen werden.

 

Normenkette

RVO § 803 Fassung: 1963-04-30, § 805 Fassung: 1963-04-30, § 798 Nr. 1

 

Verfahrensgang

SG Stuttgart (Entscheidung vom 07.11.1975; Aktenzeichen S 3 U 1526/73)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 7. November 1975 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger ist seit dem 1. April 1971 als Pächter des Jagdreviers Thierhaupten II Mitglied der Beklagten (Bescheid vom 6. Juni 1972). Durch Bescheid vom 3. Juli 1972 über die Beitragsumlage 1971 forderte die Beklagte vom Kläger 208,50 DM. Maßstab für die Berechnung des Beitrages waren 2,5 vH des Jagdwertes von 8.337,50 DM (§§ 46 Abs 4, 54 der Satzung der Beklagten in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Mai 1970). Dagegen erhob der Kläger Widerspruch und machte geltend, daß das Unfallrisiko mit der Höhe der Pacht nichts zu tun habe. Die Pachtpreise seien heute Liebhaberpreise. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1973 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zur Frage des angemessenen Beitragsmaßstabes einen neuen Bescheid für das Jahr 1971 zu erteilen (Urteil vom 7. November 1975). Zur Begründung hat das SG ausgeführt: Der von der Beklagten in ihrer Satzung als Beitragsbemessungsmaßstab bestimmte Jagdwert sei kein angemessener Maßstab iS des § 803 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO). In den Jahren 1952 bis 1956 seien der Jagdwert, für dessen Einführung seine Praktikabilität gesprochen habe, und der andere in Betracht kommende Maßstab, der Flächenwert als gleichrangige Maßstäbe anzusehen gewesen. Danach habe die Entwicklung der Jagdpachtpreise jegliche Beziehung zu den Prinzipien der Unfallversicherung verloren. Denn es sei zur Regel geworden, daß Pächter in nennenswerter Anzahl überhöhte und in mindestens ebenso großer Anzahl unangemessen niedrige Pachtpreise zahlten. Jedenfalls ab 1971 sei der Maßstab des Jagdwertes nicht mehr angemessen, da zwischen Pachtpreis und Unfallrisiko seitdem kein Bezug mehr bestehe. Die Beklagte hätte sich angesichts des außer Rand und Band geratenen Geschehens bei den Jagdpachtpreisen verpflichtet sehen müssen, die Angemessenheit ihres Beitragsbemessungsmaßstabes zu überprüfen.

Auf Antrag der Beklagten und mit Zustimmung des Klägers hat die Vorsitzende der Kammer des SG durch Beschluß vom 11. Dezember 1975 die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Der von ihr für die Beitragsbemessung bei Jagden (§ 46 Abs 4 der Satzung) bestimmte Maßstab des Jagdwertes sei ein angemessener Maßstab, der dem Maßstab der Jagdfläche gleichwertig und zudem verwaltungstechnisch rationeller sei. Es komme nicht so sehr darauf an, daß im Einzelfall ein Beitrag höher ausfalle, weil der Jagdwert höher als üblich sei. Infrage stehe die Angemessenheit des Maßstabes insgesamt. Der Jagdwert, der sich nach dem Pachtpreis für die Jagd und den anfallenden Nebenleistungen wie Kosten für Wildschaden richte, lasse in aller Regel die Intensität der jagdlichen Nutzung erkennen und biete somit deutliche Anhaltspunkte für die bei der jagdlichen Bewirtschaftung entstehenden Risiken. Im Falle des Klägers sei zudem zu berücksichtigen, daß der Pachtpreis während der Mindestpachtdauer von neun Jahren konstant bleibe, während sich die Aufwendungen der Berufsgenossenschaft aufgrund der allgemeinen Kostensteigerung erhöhten. Überdies habe das SG seine Sachaufklärungspflicht verletzt, indem es zur Aufklärung der Sach- und Rechtslage keine sachkundigen Behörden (Landwirtschaftsministerium) oder Organisationen (Jagdverbände) eingeschaltet habe. Stattdessen seien vom SG die offengebliebenen Fragen mit Erörterungen soziologischer oder philosophischer Art beantwortet worden.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des SG Stuttgart vom 7. November 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das SG Stuttgart zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, die Revisionsbegründung der Beklagten enthalte im wesentlichen die Wiederholung von Tatsachenbehauptungen aus der ersten Instanz und Angriffe gegen die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils. Die tatsächlichen Feststellungen seien jedoch bindend, da die Beklagte in bezug auf diese Feststellungen keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen vorgebracht habe. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen habe das SG zutreffend geschlossen, daß der ursprünglich angemessene Beitragsmaßstab "Jagdwert" seit 1971 nicht mehr angemessen sei, weil die Jagdpachtpreise nichts mehr mit der Ergiebigkeit der Jagd und dem Unfallrisiko zu tun hätten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist statthaft. Der Beschluß über die nachträgliche Zulassung der Sprungrevision (§ 161 Abs 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) ist zwar allein von der Vorsitzenden der Kammer des SG erlassen worden, der erkennende Senat hält ihn jedoch für wirksam, da er vor Ablauf einer bis zum 31. Dezember 1976 zu bemessenden Übergangszeit ergangen ist (BSG SozR 1500 § 161 Nr 12 und die dort zitierte weitere Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -).

Die Revision der Beklagten ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache gemäß § 170 Abs 4 Satz 1 SGG an das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg zurückzuverweisen ist.

Die vom SG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen zur Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides vom 3. Juli 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Mai 1973 nicht aus. Die von der Beklagten erhobene Sachaufklärungsrüge muß unberücksichtigt bleiben. Zum einen ist der sie enthaltende Schriftsatz vom 8. August 1977 erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist (§ 164 Abs 2 Satz 1 SGG) beim Revisionsgericht eingegangen und zum anderen kann eine Sprungrevision nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden (§ 161 Abs 4 SGG).

Die Rechtmäßigkeit des Beitragsbescheides hängt davon ab, ob die Vorschriften der Satzung, auf die er gestützt ist, mit dem höherrangigen Recht der RVO vereinbar sind.

Nach § 776 Abs 1 Nr 3 RVO umfaßt die landwirtschaftliche Unfallversicherung ua Jagden und die in ihnen tätigen gegen Arbeitsunfall Versicherten; dazu gehören auch die Unternehmer (§ 539 Abs 1 Nr 5 RVO). Die Unternehmer haben die Mittel für die Ausgaben der Berufsgenossenschaften durch Beiträge aufzubringen (§§ 723, 724, 802 RVO). Für Unternehmen mit Bodenwirtschaft werden die Beiträge gemäß § 803 Abs 1 RVO nach dem Arbeitsbedarf oder dem Einheitswert oder einem anderen angemessenen Maßstab berechnet. Für Unternehmen ohne Bodenwirtschaft, zu denen ua die Jagden gehören, regelt die Beitragsleistung nach § 805 RVO die Satzung. Diese muß auch den Maßstab für die Berechnung der Beiträge bestimmen (§ 798 Nr 1 RVO). Angesichts des das gesamte Beitragsrecht durchziehenden Grundsatzes, daß eine möglichst gerechte Belastung der Beitragspflichtigen gewährleistet sein muß (vgl Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 8. Aufl, S 540 b), kommt bei der Berechnung der Beiträge für Unternehmen ohne Bodenwirtschaft ebenfalls nur ein angemessener Maßstab in Betracht. Ob ein Maßstab angemessen ist, beurteilt sich in erster Linie nach der Relation zwischen Unfallgefahr und Praktikabilität einerseits und den Auswirkungen des zu wählenden Maßstabes auf die Beiträge andererseits (Noell/Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, § 803 Anm 2 c).

Nach § 46 Abs 4 der Satzung der Beklagten wird der Beitrag für die Jagden nach einem Hundertsatz des Jagdwertes berechnet. Die Höhe des Hundertsatzes bestimmt der Vorstand (vgl auch § 54 Abs 2 der Satzung). Der vom Kläger geforderte Beitrag ist nach 2,5 vH des Jagdwertes berechnet.

Neben der Jagdfläche kann der Jagdwert grundsätzlich als ein angemessener Maßstab zur Berechnung der Beiträge für Jagden angesehen werden. Unerheblich ist, daß es sich beim Jagdwert um einen steuerlichen Maßstab handelt. In § 798 Nr 1 RVO geht der Gesetzgeber selbst davon aus, daß Beiträge zur landwirtschaftlichen Unfallversicherung nach steuerlichen Maßstäben berechnet werden können. Für Unternehmen mit Bodenwirtschaft ist gemäß § 803 Abs 1 RVO der Einheitswert als Berechnungsmaßstab ausdrücklich aufgeführt. Er ist der der Berechnung der Vermögenssteuer, der Grundsteuer, der Gewerbesteuer und der Erbschaftssteuer dienende Wert (§ 17 des Bewertungsgesetzes vom 17. Dezember 1965 - BGBl I 1862 -, jetzt § 17 des Bewertungsgesetzes idF vom 26. September 1974 - BGBl I 2369). Als anderer angemessener Maßstab kommt für Unternehmen mit Bodenwirtschaft nach § 816 RVO auch der Grundsteuermessbetrag in Betracht (vgl Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 816 Anm 2 b; Noell/Breitbach aaO § 816 Anm 2; Brackmann aaO S 545, 546 b).

Der Jagdwert, nach dem die von den Landkreisen und den kreisfreien Gemeinden erhobene Jagdsteuer berechnet wird (vgl Art 6 Abs 1 des Bayer. Gemeindeabgabegesetzes vom 20. Juli 1938 - BayBS I S 553, seit 1. Juli 1974 § 3 Abs 2 des Bayer. Kommunalabgabengesetzes vom 20. März 1974 - GVBl S 109), bestimmt sich im wesentlichen nach dem Pachtpreis; bei Eigenjagden oder nicht verpachteten Gemeinschaftsjagden gilt im allgemeinen als Jagdwert der im Falle einer Verpachtung zu erzielende Pachtpreis (vgl §§ 5 und 6 der Mustersatzung nach Anlage 2 der Bekanntmachung zur Durchführung des Bayer. Gemeindeabgabengesetzes vom 20. Juli 1938 - BayBS I S 555; Pagenkopf, Kommunalrecht, Bd 2, 2. Aufl, S 87; Fläming, Handwörterbuch des Steuerrechts, Bd 1, 1972, Stichwort: Jagdsteuern).

Dem Jagdwert kommt als Beitragsmaßstab eine große Praktikabilität zu. Durch seine Abhängigkeit vom Pachtpreis steht er zudem in Beziehung zur Unfallgefahr. Der Pachtpreis einer Jagd wird ua durch die Größe des Jagdreviers sowie Art und Zahl des Wildbestandes beeinflußt. Diese Faktoren lassen Rückschlüsse auf die Jagdintensität zu, wodurch das Unfallrisiko beeinflußt wird. Besteht sonach zwischen der Höhe des jeweiligen Pachtpreises und der durch die Qualität des Jagdreviers bestimmten Jagdintensität ein wesentlicher Zusammenhang, können gegen den Jagdwert als Maßstab für die Berechnung der Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung keine begründeten Einwendungen erhoben werden, zumal da durch den vom Vorstand der Berufsgenossenschaft zu bestimmenden Hundertsatz des Jagdwertes (§§ 46 Abs 4, 54 Abs 2 der Satzung) eine jederzeitige Anpassung an den erforderlichen Bedarf (§§ 724, 802 RVO) vorgenommen werden kann. Die Satzung der Beklagten ist insofern mit dem Recht der RVO vereinbar.

Der Jagdwert kann aber kein angemessener Maßstab für die Berechnung der Beiträge sein, falls, wie der Kläger behauptet, die Pachtpreise für Jagden und damit der Jagdwert von Umständen abhängen, die keine Beziehung zur Unfallgefahr mehr haben. Sofern zB die Jagdgenossen eines gemeinschaftlichen Jagdbezirks von der Beschränkung der Verpachtung auf den Kreis der Jagdgenossen Gebrauch machen (vgl § 10 Abs 1 des Bundesjagdgesetzes vom 30. März 1961 - BGBl I 304, jetzt § 10 Abs 1 des Bundesjagdgesetzes vom 1. Juni 1976 idF der Bekanntmachung vom 29. September 1976 - BGBl I 2849), kann dies unmittelbar Auswirkungen auf die Höhe des Pachtpreises haben, die möglicherweise wenig oder gar nicht von der Qualität des Jagdreviers abhängen. Ähnlich kann es sich verhalten, wenn eine Jagd im Wege der öffentlichen Versteigerung vergeben wird. Der dem steuerlichen Maßstab des Jagdwertes zugrundeliegende Pachtpreis hätte bei Preisgestaltungen, die wesentlich durch unterschiedliche Verpachtungsarten bedingt sind, keinen ausreichenden Bezug zum Unfallrisiko mehr. Die durch den jeweiligen Verpachtungsmodus in ihrer Höhe beeinflußten Pachtpreise könnten bei der Beurteilung des Jagdwertes als angemessener Maßstab allenfalls dann unberücksichtigt bleiben, wenn diese im Verhältnis zur Gesamtzahl der Jagden, für die Beiträge erhoben werden, im örtlichen Zuständigkeitsbereich der Beklagten (§ 3 der Satzung) nicht ins Gewicht fielen. Aus Gründen der Praktikabilität, die bei der Prüfung der Angemessenheit eines Beitragsmaßstabes zu beachten ist, sind der Zahl nach wenige Abweichungen in Kauf zu nehmen.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des SG betrug der Pachtpreis für das Jagdrevier des Klägers bis zum 31. März 1971 jährlich 1.810,- DM und ab 1. April 1971 jährlich 8.337,50 DM. Daraus allein kann jedoch nicht geschlossen werden, daß der Jagdwert kein angemessener Maßstab für die Beitragsberechnung mehr sein kann. Tatsächliche Feststellungen, die den vom Kläger gezahlten Pachtpreis als einen vom Durchschnitt abweichenden, wesentlich durch den Verpachtungsmodus beeinflußten außergewöhnlich hohen Preis erscheinen lassen, fehlen. Bei den Ausführungen des SG zu der Entwicklung der Pachtpreise im allgemeinen in der Zeit bis 1956 und zu den Verhältnissen im Jahre 1971 handelt es sich lediglich um Wertungen, die mangels tatsächlicher Feststellungen auf ihre Richtigkeit nicht nachgeprüft werden können. Da das Revisionsgericht die zur Entscheidung über die Angemessenheit des Beitragsberechnungsmaßstabes in dem hier maßgebenden Zeitraum erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an die Tatsacheninstanz zurückverwiesen werden, und zwar gemäß § 170 Abs 4 Satz 1 SGG an das LSG Baden-Württemberg. Das LSG wird auch zu prüfen haben, inwieweit Beitragsbescheide der Beklagten für die Jahre 1972 und später Gegenstand des Verfahrens geworden sind (vgl BSGE 9, 78).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655268

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