"Verantwortung kann man nicht per E-Mail verschicken"
Haufe Online-Redaktion: Herr Dr. Bühlmann, Sie bezeichnen Virtual Team Management als Ihr persönliches Steckenpferd. Was interessiert Sie an dem Thema?
Dr. Beat Bühlmann: Ganz einfach: Es ist die Zukunft. Aus ganz verschiedenen Gründen. Eine Firma kann mit virtuellen Teams Topleute bekommen oder an Knowhow von Topleuten kommen, auch wenn Sie nicht umziehen können oder wollen. Das ist das eine. Das andere ist: Man kann nicht für jedes Fünf-Minuten-Meeting zehn Stunden fliegen, sowohl wegen des CO2-Ausstoß, als auch wegen der Flugkosten, als auch wegen der Lebensqualität. Es geht dabei nicht darum, online gegen offline auszuspielen, überhaupt nicht. Sondern darum, das jeweils Eine sinnvoll einzusetzen. Oft ist es einfach die bessere Alternative, als nicht zu kommunizieren. Darüber hinaus können Sie als Firma einen weltweiten 24/7-Betrieb aufrechterhalten. Bei uns ist es zum Beispiel so: In Japan ist der Kundendienst schon wach und kann an Tickets von uns in Europa arbeiten, obwohl wir noch schlafen. Wenn unser Kundendienst dann beginnt, kann dieser übernehmen und dann können wir den Kunden schon um 9 Uhr morgens mit einer Lösung anrufen, die uns die Zeitzone vorher erarbeitet hat.
Virtual Team Management braucht klare Regeln
Haufe Online-Redaktion: Sie waren wesentlich an der Entwicklung eines sogenannten Kommunikationsführerscheins für virtuelle Teams beteiligt. Warum braucht es Ihrer Meinung nach so eine Qualifikation?
Bühlmann: Weil wir Kommunikation nicht gelernt haben. Wenn Sie auf der Straße fahren wollen, dann müssen Sie einen Führerschein machen. Sie müssen wissen: Fahren Sie rechts oder links auf der Straße? Stellen Sie sich mal das Chaos vor, wenn jeder selbst entscheiden würde, ob er links oder rechts fährt. Sie müssen beim Autofahren aber auch wissen, was der tote Winkel ist und Sie müssen wissen, dass der Bremsweg mit der Geschwindigkeit im Quadrat zunimmt. Aber solche Dinge weiß man bei der Kommunikation nicht. Ich kenne niemanden, der richtig gelernt hat, mit E-Mails umzugehen.
In der Schule lernen wir nicht, mit diesem heutigen multiplen Overload und mit all diesen Kanälen umzugehen." Dr. Beat Bühlmann
Heute haben die Firmen viele Kommunikationskanäle: Telefon, interne Post, E-Mail, verbale Meetings, dann Remote-Meetings, vielleicht noch einen Chat-Kanal. Das führt zu einem multiplen Overload, denn wir haben nicht in der Schule gelernt, wie wir mit all diesen Kanälen umgehen sollen. Es keine grundlegende, allgemeine Regel, welchen Kommunikationskanal man wann braucht. Manchmal ist das völlig logisch: wenn das Haus brennt schreibt niemand der Feuerwehr eine E-Mail. Sie wollen "instant conversation". Sie wollen nicht warten, ob jemand die E-Mail gelesen hat. Dort – im Notfall – machen wir das automatisch richtig. Aber im Alltag wählen wir häufig den "falschen" Kommunikationskanal.
Haufe Online-Redaktion: Und das überlastet die Teammitglieder?
Bühlmann: Genau, diese Kommunikationsüberlastung durch E-Mails, Chats und Messenger, aber auch durch Meetings, ist ein Teil von dem, was wir als "Triple Overload" – dreifache Überlastung – bezeichnen: Kommunikationsüberlastung, Datenüberlastung und kognitive Überlastung. Unsere Forschung hat ergeben, dass der durchschnittliche "Knowledge-Worker" zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag nach Informationen sucht. Das sind fast 30 Prozent der Lohnkosten.
Der durchschnittliche 'Knowledge-Worker' sucht zwei bis zweieinhalb Stunden am Tag nach Informationen. Das sind fast 30 Prozent der Lohnkosten." Dr. Beat Bühlmann
Die Marktforschungsfirma IDC sagt auch, dass sich in vierzehn Monaten das Datenvolumen verdoppelt haben wird. Dann wird es ja noch schlimmer - Stichwort Datenüberlastung. Und dazu kommt dann noch: Alle drei bis fünf Minuten werden Knowledge-Worker unterbrochen von irgendwelchen Notifications. Dabei zeigt die Hirnforschung ganz klar: Man muss 30 bis 40 Minuten am Stück ohne Unterbrechung an etwas denken und arbeiten können, damit man die Zusammenhänge sieht.
Haufe Online-Redaktion: Wie können die vielen technischen Lösungen, die es am Markt gibt, dabei helfen die Überlastung zu reduzieren?
Bühlmann: Es hilft nicht, nur ein neues Tool kaufen. „A fool with a tool is still a fool.“ Unser Lösungsvorschlag zu diesem Triple Overload lautet daher: Zuerst Psychologie und dann Technologie. Man kann das Handy getrost mal eine Stunde auf Flugmodus stellen, dann kann man einfach mal lesen, denken, etwas aufzeichnen oder mit Leuten etwas besprechen - Attention Management nennen wir das. Ich bin überzeugt: Attention Management wird das wichtigste Killer-Feature der Zukunft, denn ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren haben die meisten Knowledge-Worker nie gelernt.
Attention Management ist das wichtigste Killer-Feature der Zukunft." Dr. Beat Bühlmann
E-Mail- und Kalenderhygiene im Team Management
Haufe Online-Redaktion: Wie können Kommunikationsregeln ganz konkret aussehen?
Bühlmann: Für die E-Mails haben wir vereinbart, dass ab sieben Uhr abends niemand mehr E-Mails bearbeiten muss. Die E-Mail ist kein Kanal für dringliche Kommunikation. Sie kann wichtig sein, aber wichtige Sachen können warten, dringliche Sachen nicht. Diese Unterscheidung haben viele vergessen. Sie müssen den richtigen Kommunikationskanal wählen. Wenn es "urgent" ist, müssen Sie mich oder meinen Stellvertreter anrufen. Verantwortung kann man nicht per E-Mail verschicken.
Ein weiteres Thema bei uns war Kalenderhygiene: In vielen Firmen gibt’s Leute, die sagen bei Termineinladungen einfach nicht zu. Ohne zu wissen, wer kommt, können Sie kein sinnvolles Meeting führen. Es ist auch irgendwie respektlos, nicht zu- oder abzusagen. Also haben wir vereinbart: Bitte sagt „ich komme“ oder „ich komme nicht“. Wer nicht kommen kann, kann einen kleinen Text dazu schreiben, Hauptsache man antwortet. Außerdem ist bei uns im Kalendereintrag immer die Agenda drin mit allen Dokumenten, die man vorher lesen muss. Es kann also niemand sagen, er wüsste nicht, was er lesen musste. Das hat dazu geführt, dass wir eine viel bessere Meetingqualität haben. Das ist wichtig, damit die wenige Zeit, die man gemeinsam hat, auch maximal gut ausgenutzt wird. Im virtuellen Team ist deshalb auch die Drei-W-Regel extrem wichtig: Wer macht was bis wann?
Haufe Online-Redaktion: Was unterscheidet dann das Arbeiten von virtuellen Teams und klassischen Teams und welche Probleme gehen damit einher?
Bühlmann: Bevor man den Unterschied betrachtet, muss man sich erst anschauen, was eigentlich gleich ist. Katzenbach und Smith definieren Teams als kleine Anzahl von Leuten mit „compementary skills“, also Kompetenzen, die sich ergänzen. Sie haben die gleichen Ziele, für die sie "mutually accountable“ sind. Wie im Fußball: Entweder gewinnt das ganze Team oder es verliert. Man kann nicht sagen: „Ja der Torhüter hat gewonnen und der Stürmer hat verloren.“ Diese Definition ist für alle Teams gleich, auch für virtuelle Teams.
In einem virtuellen Team brauchen die Teammitglieder aber darüber hinaus noch weitere Skills. Darum haben wir beispielsweise auch unseren Hiring-Prozess angepasst: Wir prüfen, ob die Person in einem virtuellen Team arbeiten kann.
Virtuelle Teammitglieder brauchen besondere Skills
Haufe Online-Redaktion: Was sind das für Skills und Eigenschaften, die jemand haben sollte, um erfolgreich in einem virtuellen Team zu arbeiten?
Bühlmann: Es gibt Leute, die brauchen die Nähe, die brauchen jemanden, der ihnen sagt, was sie zu tun haben. Diese Personen sind auch für jeden Job brauchbar, aber in einem virtuellen Team braucht es Leute, die selbständig sind - wie Mini-CEOs, die die Arbeit selbst sehen und nicht warten, bis der Chef sagt: „Du musst jetzt das machen.“ Sie müssen auch viel mehr voraus denken und sich in Situationen anderer Personen einfühlen können. „Ah die Person in Jakarta, bei der ist jetzt Nacht, und im Iran ist jetzt Gebetsstunde, da kann ich kein Meeting machen.“
"A virtual team is a different story."
Haufe Online-Redaktion: Was sollten speziell Führungskräfte von virtuellen Teams beachten?
Bühlmann: Also das Wichtigste ist, dass man die Regeln zur Kommunikation nicht vorgibt, sondern gemeinsam mit dem Team bespricht und erarbeitet. Zwei Drittel von erfahrenen Führungskräften, die zum ersten Mal ein virtuelles Team führen, sind nicht erfolgreich. A virtual team is a different story. Darum sollte man zum Beispiel auch wissen, was für eine Art virtuelles Team man hat.
Virtualität fängt an, wenn Sie im ersten Stock sind und ich im zweiten, weil ich dann nicht schnell über den Tisch rufen kann. Weiter geht es mit Teammitgliedern in verschiedenen Städten, die aber noch die gleiche Sprache sprechen. Noch komplexer wird es mit verschiedenen Zeitzonen, verschiedenen Sprachen, verschiedenen Religionen, verschiedenen kulturellen Normen und so weiter. Ein Beispiel: Oft sind die Chefs von virtuellen Teams im Hauptsitz, und dort hat man immer eine Top-Infrastruktur. Manchmal sagen diese Leute dann: „Wir machen mal fünf Minuten Pause, jeder holt sich ein Sandwich und dann machen wir weiter.“ Aber wenn sie in einem kleinen Satelliten-Office in Peru oder Tokio sind, dann dauert es 30 Minuten bis Sie ein Sandwich haben. Ich mache das bei Videokonferenzen immer so, dass die Mitarbeiter mit der Kamera durch das ganze Office gehen, damit ich auch sehe, wie es bei ihnen aussieht.
Dr. Beat Bühlmann ist in einem Schweizer Landhotel aufgewachsen und hat nach seiner Lehre zum Kfz-Mechaniker Informatik und Telekommunikationswissenschaft studiert. Nach seiner Zeit bei Dell und HP und seiner Promotion in Business Administration mit Fokus auf Virtual Team Management hat er dieses Fachwissen unter anderem bei Google eingesetzt. Zum Zeitpunkt der Interviews (Oktober 2018) leitete er die EMEA-Region bei Evernote, inzwischen ist er bei der Swissom beschäftigt.
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