Rusinek: Von Entkörperlichung zum Spüren von Verantwortung

Die Idee, dass Geist und Körper grundsätzlich getrennt seien, brannte sich über Jahrhunderte in unser Hirn ein. Nur das Denken bringe uns Gott näher, schrieb der Philosoph René Descartes. Das Resultat dieser Denkweise zeigt sich in der heutigen Wissensarbeit: Erschöpfte Kopfwesen, die den Körper eher als Widersacher, denn als Mitspieler betrachten. Im zweiten Teil seiner Serie erklärt unser Autor, warum bessere Wissensarbeit den Körper braucht.

Vielleicht ist es schon länger her, dass du das Pantomimespiel Charade gespielt hast. Ich möchte dich zu einer Partie einladen: Bitte stelle deinen Beruf pantomimisch dar! Wetten, dass du nun auf eine imaginäre Tastatur tippst? Die Arme angewinkelt? Der Rest des Körpers still? Vielleicht die Schultern etwas hochgezogen? Wenn ja, dann machst du die Arbeit, die wir so selbstbewusst "Wissensarbeit" nennen. Wissensarbeit, für die der Körper brachliegt. Wissensarbeit, für die wir am Wochenende Töpferkurse machen, um uns "mal wieder selbst zu fühlen" – wobei es selbstverständlich keine Töpferin gibt, die am Wochenende Excel-Kurse macht, weil sie das "so richtig schön erdet". Wissensarbeit, in der aus abstrakten Begriffen sehr viel Gestaltungsmacht abgeleitet wird. Doch können wir uns überhaupt einen Begriff von einer Welt machen, die in vielen Dimensionen an einer Kippe steht, wenn wir von dieser körperlich gar nicht ergriffen sind? Können wir Verantwortung übernehmen, wenn wir keine Verantwortung spüren? Finden wir noch einen Sinn in einer Arbeit, die jeglicher Sinnlichkeit beraubt ist?

Na klar, sagen wir: Wissen ist Kopfsache und nicht Körpersache! Die Idee, dass Geist und Körper grundsätzlich getrennt seien, brannte sich über Jahrhunderte in uns ein. Nur das Denken bringe uns Gott näher, so Descartes. Das unterscheide uns auch von Tieren, die nur Automaten aus Fleisch seien, so Malebranche. Wo Menschen nur Geist sind, sind Tiere nur Körper – so begann die Trennung von Mensch und Mitwelt und damit auch Wirtschaft und Ökologie. Religiösen Denkern war diese Trennung von – christlich gesprochen –  Seele und Leib so wichtig, weil nur damit ein Jenseits plausibel wurde – wie sonst soll man ein Leben nach dem Tod versprechen, wenn wir Leichen und deren Verfall kennen? Die bis heute andauernde Entkörperung geschieht stets doppelt: Der eigene Leib und das Leibliche auf der Welt, die Mitwelt, werden zugleich abgewertet. Deshalb werden wir auch nicht in der Lage sein, die ökologische Krise zu lösen, wenn wir nicht von Grund auf überdenken, wer wir sind und wie wir mit der Welt zusammenhängen. Wer meint, dass diese Entkörperung Wissensarbeit auch in Zukunft auszeichnen sollte, dessen Wissen ist letztendlich weltfremd.

Zwischen Kaffee und Schmerzmitteln

Denn ohne offensichtliche theologische Dogmen werte die Arbeitswelt heute weiter munter Körper ab: Körperfeindlichkeit zeichnet das Genie aus, das keine Regeneration braucht, immer am Limit ist und "sich von so kleinen Bitches wie der Natur überhaupt nichts sagen lässt" (Ronja von Rönne). In einer neun Jahre dauernden Studie untersuchte Alexandra Michel, wie Investmentbanker zunächst ihre Körper als "passive Objekte" sahen, wie sie dann nach Jahren der Überarbeitung in einen intensiven Kampf zur Unterdrückung ihrer schmerzenden Körper verfallen und dann ab zwischen dem vierten und sechsten Jahr, was der durchschnittlichen Betriebszugehörigkeit entspricht, die ersten Körper zusammenbrechen, der Geist eben die Kontrolle über Körper verliert. Qualvoll lernten die Banker ihre Körper als eben "wissende Subjekte" zu sehen. 

Auch jenseits dieser Branche hat eine Arbeitswelt, die auf Selbstmedikation durch Schmerzmittel, Zeitdruck und natürlich Kaffee angewiesen ist, um den Körper unter Kontrolle zu bringen, immer nur zeitweise Erfolg, wie die Überlastungskrankheiten zeigen. Trotz jeder Verdrängung hat der Körper nämlich seinen eigenen Willen und auch sein eigenes Wissen, wie wir sehen werden.

Und doch erhält diese Körperfeindlichkeit den Status quo, genau wie sie auch den Status der Kirche erhalten hat. Wir verbarrikadieren uns in Stress oder Koffeinrausch, die gelegen kommen, weil sie vom Körper ablenken und wir uns so nicht spüren müssen. Dadurch betäubt, sind wir auch unserer Mitwelt gegenüber betäubt. Der Blick verengt sich: Was bleibt ist ein rasender Stillstand. Nichts wird hinterfragt. Business as usual.

Für eine Arbeitswelt, der es aber auf ein Herausarbeiten aus dem Status quo ankommt, etwa in den Bereichen digitale Transformation, CSR oder New Work heißt dies im Umkehrschluss, dass ein Verstehen des Körpers eine so zentrale, wie derzeit vernachlässigte Aufgabe ist. 

Wir sind denkende Körper

Das Schlimmste an der jahrhundertealten Trennung von Geist und Körper ist aber: Sie ist einfach in der Sache falsch. Die Forschung zu Embodied Cognition zeigt, wie wenig Denken und Fühlen voneinander zu trennen sind. Die Begründungen, die wir uns bei Entscheidungen zurechtlegen, sind oft Post-Rationalisierungen für etwas, was wir vorher fühlten. Nicht allein das Abwägen von Argumenten, sondern das Verarbeiten und Vermitteln von Gefühlen macht uns zu Entscheidern. Es ließ sich auch zeigen, dass die Herzrate, die Temperatur oder auch die Sauberkeit eines Raumes unsere ach so rationalen Entscheidungen beeinflussen. Selbst unsere Körperhaltung funkt uns dazwischen: Ein Experiment zeigte, dass uns der Eiffelturm kleiner vorkommt, wenn wir uns nach links lehnen, und größer, wenn wir uns nach rechts lehnen (weil wir eine Art Zahlenskala im Kopf haben). Leider konnte mir keine Studie zeigen, wie ich meine Chefin dazu bringe, sich in der Gehaltsverhandlung ganz stark nach rechts zu lehnen...

Dass Wissen aus dem Körper aufsteigt, zeigt auch ein Alltagsexperiment: Du streitest dich mit jemandem. Es eskaliert. Mal fliegen Post-it-Blöcke. Mal Beleidigungen. Du suchst genervt die Distanz, kommst zur Ruhe, vielleicht in der Natur. Und dann erst steigt das Wissen über den Auslöser des Streits aus dem Körper auf: Ah ja, du hattest Angst, dass der Kollege deinen Mittagspausen-Joghurt wegessen wollte. Wir können viele scheinbar kognitive Dinge machen, streiten, Entscheidungen treffen, Urteile fällen, ohne einen Zugriff auf weite Teile unseres Wissens zu haben. Trotzdem treibt es unsere Handlungen. Für eine Arbeitswelt, die dieses Reservoir an Wissen würdigt, schlage ich zwei Veränderungsdimensionen vor. 

Veränderungsdimension I: Gänsehaut im Management 

Koppeln wir uns von unserem Körper ab, koppeln wir uns auch von Emotionen ab, oft bleibt in der Arbeit nur eine übrig: Mattheit, ein Platzhalter-Gefühl für die Abwesenheit von Gefühlen. Das Schöne an zugelassenen Emotionen ist aber: Sie können Boten sein. Emotionen zeigen, was uns wichtig ist – was übrigens "gute" und "schlechte" Emotionen gemeinsam haben, wie der Philosoph Matthias Bordt weiß. Befürchte ich eine infame Attacke auf meinen Mittagspausen-Joghurt, steckt dahinter eine Sehnsucht nach Respekt und Verlässlichkeit. Hinter jeder Emotion steckt die Liebe zu etwas Gutem.

Wollen wir an Veränderungen zum Guten arbeiten, brauchen wir diese Boten, die gewissermaßen zwischen Geist und Körper pendeln. Sie können nicht nur verhindern, dass der Joghurt-Streit eskaliert – sondern auch Klimakrise. Denn eine für die Arbeitswelt wichtige Gefühlskategorie sind die Klimagefühle. Auch diese lassen wir nicht zu, weshalb wir ein weiteres Platzhalter-Gefühl in Bezug auf den Planeten spüren: Hilflosigkeit. Die Psychotherapeutinnen Lea Dohm und Mareike Schulze betonen, dass wir am Zulassen von Klimagefühlen wachsen können, dass sie eben auch Boten sind: Wut, etwa auf das Nicht-Handeln großer Akteure, kann zum Handeln motivieren. Traurigkeit, etwa wenn wir Vogelfutter aufstellen, aber gar kein Vogel mehr kommt, kann uns dazu bringen uns zu solidarisieren und dagegen etwas zu unternehmen. Auch Neid ist ein Klimagefühl: Neid auf die Kollegin, die ein fettes Auto hat, jedoch nicht so ein fettes Klimabewusstsein. Neid auch auf klimaengagierte Menschen, die bereits handeln. All das zuzulassen, kann Organisationen und Teams beflügeln – oder therapeutisch gesprochen: mit diesen Emotionen lässt sich arbeiten.

Nicht nur die Klimakrise, sondern praktisch alles, was herausfordernd ist an dieser Arbeitswelt, würde von Ergriffenheit profitieren: Denn wer sich einen Begriff machen will von einem nötigen Wandel, muss erstmal von ihm ergriffen sein. Unser Denken beginnt mit Gänsehaut, so der Philosoph Byung Chul Han, das unterscheide es auch vom "Denken" der KI. Wieviel Gänsehaut lässt die Arbeit zu? Sie redet von großen Herausforderungen, meint damit aber nur sterile Buzzwords und kühles Kalkulieren – so haben wir auch der KI nichts entgegenzusetzen. Allerorts begegnen wir der Blockade, dass Menschen durch reine Vernunft nicht zu begeistern sind: Da ist die 400-seitige CSR-Richtlinie, die bei Weitem nicht so viel Impact hat, wie wenn wir im Kollegenkreis einfach mal darüber sprechen würden, welche Welt wir hinterlassen wollen. Da ist das Change-Projekt das "auf dem Papier" so richtig klingt, aber vergisst, dass wir keine Textverarbeitungsprogramme sind, sondern fühlende Wesen. 

Führung und Fühlung muss eine neue Synthese eingehen. Diese emotionale-körperliche Seite ist dabei keine zu diskutierende Option. Wir fühlen, ob wir wollen oder nicht. Aber vielleicht wollen wir noch mehr spüren als Mattheit und Hilflosigkeit. 

Veränderungsdimension II: Thinking outside the Brain

Wir sprechen in der Arbeit oft davon, dass wir "mal rausmüssen", "frische Luft" oder "einen Tapetenwechsel" brauchen. Darin steckt das intuitive Wissen, dass über unseren Körper die ganze Welt in uns denkt. Ein weiteres Alltagsexperiment unterstreicht das: Wenn du in einen Raum gehst, um etwas zu erledigen (zum Beispiel den Joghurt des Kollegen zu essen) und dabei vergisst, was du machen wolltest, dann gehe wieder in den Raum, wo dir der Gedanke kam, weil der Gedanke dort noch in der Luft hängt. Genau aus diesen Gründen benutzte Brian Eno, der die Popmusik von Bowie bis Coldplay prägte und sogar die legendäre Hochfahrmelodie von Microsoft Windows komponierte (auf einem Mac übrigens!), niemals den Begriff "Genie". Obwohl er mit vielen Menschen arbeitete, die wir genau so nennen würden, sprach er stattdessen von "Szenie". Weil es bemerkenswerte Settings sind, wo bemerkenswerte Gedanken zustande kommen. Eno tat alles, um das Szenie zu wecken, und nahm an den unmöglichsten Orten Musik auf. 

Auch Wissensarbeiter müssen ihr Denken mehr von der Umwelt prägen lassen: Können verantwortungsvolle Strategien in einem grauen Bunker entstehen? Was macht eine Welt der Einzelkämpferinnen in Homeoffice-Mulden aus unserem Szenie? Welcher Change soll in Bewegung kommen, wenn wir selber nicht in Bewegung kommen? Als Anhänger des Szeniekults, helfe ich Unternehmen, über Spaziergangsrouten nachzudenken. Wege zu definieren, die je eine halbe oder eine Stunde dauern. Diese Routen im Büro aufzuhängen oder in Outlook einzupflegen. "17 Uhr Strategiemeeting@Kleine Waldrunde", heißt es dann. Eine Wissensarbeit, die sich – parallel zur KI-Revolution – auf ihre körperlichen Superkräfte besinnt, könnte nicht nur die Arbeitswelt gesünder, verantwortungsvoller und erfolgreicher machen – sie würde auch zu wesentlich weniger jämmerlichen Charade-Pantomimen führen!


Der Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 11/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


Hans Rusinek forscht, berät und publiziert zum Wandel der Arbeitswelt. An der Universität St. Gallen forscht er zur Sinnfrage in der Arbeit und ihrer Rolle in modernen Organisationen. Er erfüllt zudem einen Lehrauftrag zu "Future of Work" an der Fresenius Universität in Hamburg und ist Fellow im Think Tank 30 des Club of Rome Deutschland.