Gesundheitsmanagement: Magersucht in der Arbeitswelt

Christian Frommert sieht klare Wechselwirkungen zwischen Annorexie und Arbeit: Zum einen rechnet er mangelnde Wertschätzung zu den höchsten Risikofaktoren für Magersucht, zum anderen ist er überzeugt, dass er selbst seinen Weg von 39 Kilo zurück ins Leben seiner Arbeit zu verdanken hat.

Haufe Online Redaktion: Herr Frommert, Magersucht zählt zu den gefährlichsten und folgenschwersten psychischen Erkrankungen, nahezu jeder fünfte erkrankte Mensch stirbt an den Folgen seiner Unterernährung. Aber was hat der Arbeitgeber damit zu tun? 

Christian Frommert: Das große Problem ist, dass Magersucht nicht als Erkrankung, sondern als Klein-Mädchen-Spleen wahrgenommen wird. Man muss wissen, dass Magersüchtige, wie wahrscheinlich auch andere Suchterkrankte, in ihre eigene Welt flüchten. Als Magersüchtiger verlieren Sie jegliches Sentiment, jegliches Gefühl, jegliche Emotionalität. Es gibt überhaupt keine Stufe mehr zwischen Ausrasten und Ärgern und Naserümpfen oder Schmunzeln und Freuen. Sie haben sich also überhaupt nicht mehr im Griff.

Haufe Online Redaktion: Und wie sollten Vorgesetzte und Kollegen mit Magersüchtigen umgehen?

Frommert: Wichtig ist, dass der Arbeitgeber, wenn er erkennt, da stimmt was nicht, auf keinen Fall unkoordiniert auf den Betroffenen zugehen sollte. Damit würde er nur eins erreichen – dass dieser komplett dicht macht. Stattdessen sollte sich ein Arbeitgeber zunächst Rat für den Umgang mit Magersüchtigen holen, zum Beispiel bei einem Zentrum für Essstörungen. In einem Gespräch kann er dann die Situation klar benennen, sollte aber zugleich signalisieren, dass er den Magersüchtigen nicht fallen lässt. Denn wäre zur Magersucht noch Existenzangst gekommen, würde man endgültig den Lebensstecker ziehen. 

Haufe Online Redaktion: Viele Magersüchtige signalisieren, dass die Krankheit ihre Privatsache ist und wollen nicht, dass der Arbeitgeber sich überhaupt einmischt. 

Frommert: Das stimmt. Auch in einem wohlmeinenden Gespräch erhalten Sie vermutlich eine eiskalte Abfuhr. In dieser Situation sollten Sie sich sagen: Eben hat nicht der Arbeitnehmer, sondern seine Magersucht zu mir gesprochen. Das ist tatsächlich so und deswegen gibt ja auch fast jeder Magersüchtige seiner Magersucht einen Namen. Wenn Sie das wissen, haben Sie schon sehr viel von dieser Krankheit verstanden und gehen mit Betroffenen automatisch anders um. Es gibt Stellen, die gegebenenfalls die Gesprächsführung übernehmen, ein Magersüchtiger würde da aber niemals freiwillig hingehen. Ein gewisser  Druck von Seiten des Vorgesetzten ist also notwendig. 

Haufe Online Redaktion: Magersüchtige brauchen also keine besondere Schonung?

Frommert: Nein, auf gar keinen Fall! Alle Magersüchtigen haben ja einen Perfektionsdrang und neigen zu Aktionismus. Sie funktionieren immer, sie wollen auch immer funktionieren. Wir reden hier natürlich von geistiger Arbeit: Wenn Sie einem Magersüchtigen mit 28 Kilo unter Tage schicken, haben Sie ein Problem. Aber das einzige Futter, das Magersüchtige noch zu sich nehmen, ist Gehirnfutter. Wenn Sie also einem Magersüchtigen das Gefühl geben, wir können mit dir nichts mehr anfangen, löschen Sie in ihm wirklich alles aus. Dass ich mit zuletzt noch 39 Kilo Gewicht überleben konnte, habe ich allein meiner Arbeit zu verdanken. Das war etwas, was mich erfüllt hat. Viele haben gesagt, ich gebe dem keine Aufträge mehr, der muss erst mal gesund werden. 

Haufe Online Redaktion: Welche Risikofaktoren würden Sie verantwortlich machen für die Entstehung einer Magersucht am Arbeitsplatz?

Frommert: Es sind die üblichen Themen: Unterforderung im Sinne von mangelnder Wertschätzung und der Leistungsdruck. Der eine bekommt Burnout, der andere hört auf zu essen, der nächste greift zur Flasche. Die Mechanismen unterscheiden sich, aber die Auslöser sind aus meiner Sicht die gleichen.

Haufe Online Redaktion: Gibt es einen Führungsstil, der den Umgang mit Betroffenen erleichtert?

Frommert: Sicher gibt es einen Führungsstil, der mehr Achtsamkeit gegenüber anderen ausstrahlt. Aber letztlich sind das doch alles Traumtänzereien. Als Fußball-Nationaltorhüter Robert Enke den Freitod wählte, hielten alle kurz inne und schworen sich, ab sofort alles ganz anders machen zu wollen. Doch seitdem geht es mit noch stärkerem Leistungszwang weiter. Es sollte eine Atmosphäre geschaffen werden, in der eine Erkrankung erkannt und angesprochen wird und in der niemand damit fallen gelassen wird. 

Haufe Online Redaktion: Was würden Sie einem Vorgesetzten sagen, der Sie um Rat im Umgang mit seinem magersüchtigen Mitarbeiter bittet? 

Frommert: Vor allen Dingen müssen Sie an ihm dran bleiben. Viele verlieren ja schnell die Lust, sich mit Magersüchtigen zu beschäftigen. Das sind ja nicht gerade sympathische Zeitgenossen in dieser Zeit, kommen ständig mit Ausreden. Nicht-Essen nagt natürlich auch am Nervenkostüm. Also dieses Insistieren, beharrlich bleiben, sich nicht wegbeißen lassen, enorm wichtig – auch wenn es extrem hart ist und für manche Leute sogar demütigend. Doch wenn der Chef bereit ist, hier in seinen Kollegen zu investieren, dann ist am Arbeitsplatz schon extrem viel gewonnen.


Christian Frommert ist Buchautor und Kommunikationsdirektor des Fußball-Bundesligisten TSG 1899 Hoffenheim.

Das Interview führte Petra Jauch.


Hinweis: Unter dem Titel "Nicht so 'sexy' wie Burnout: Mutige Auseinandersetzung mit einer Tabu-Erkrankung" wird Christian Frommert im Gespräch mit Jürgen Loga, Geschäftsleiter des Burnout-Helpcenter der Sali Med GmbH, das Thema auf der Fachmesse Corporate Health Convention in der Messe Stuttgart am Mittwoch, 21. Mai 2014, um 15.25  Uhr aufzeigen (Halle 7, Praxisforum 1).