Eignungsidagnostik: Der Markt für digitale Tools boomt

Kleine Apps und gamifizierte Online-Tests sollen den Personalern die Personaldiagnostik erleichtern. Bisher nutzen die Unternehmen sie meist in der Vorauswahl von Bewerbern. Allerdings müssen sie vorsichtig sein – denn einige Tools taugen nicht viel.

Seitdem es Testverfahren in der Eignungsdiagnostik gibt, seitdem gibt es auch Anbieter, die mit pseudowissenschaftlichen Verfahren ihren Profit am Markt einfahren. Das hat sich jetzt, da vermehrt digitale Tools auf den Markt kommen, nicht geändert. So twittert Recruitainment-Experte Joachim Diercks: „Es ist nur leider aktuell (wieder) sehr viel Pseudowissenschaft im Markt. Nur dass es (wahlweise) jetzt unter Big Data und/oder Neurowissenschaften firmiert.“ 

Und auch HR-Blogger Stefan Scheller bezieht auf Twitter Stellung zum Markt der digitalen Eignungsdiagnostik: „Matching sinnvoll genutzt und im Zusammenspiel mit weiteren Prüfungen von Kompetenzen, Persönlichkeitsmerkmalen und Jobanforderungen ist sicher hilfreich. Nur ufert aus meiner Sicht aktuell der Hypeetwas zu weit aus. Schade. Aber das stabilisiert sich sicher.“

Digitale Tools versus Bauchgefühl

Findet ein Unternehmen also mithilfe neuer digitaler Tools die Mitarbeiter, die am besten zu ihm passen? Oder sind die traditionellen Verfahren doch noch besser als Algorithmen & Co? Klar ist, dass viele Diagnostikverfahren wie das Bewerbergespräch bereits vielfach belegte Mängel haben. Auf der Suche nach Alternativen gewinnen deshalb digitale Tools an Gewicht. Zum einen reduzieren sie den Zeitaufwand bei der Auswahl. Zum anderen versprechen sie Objektivität und Unbestechlichkeit, manche machen sogar Spaß, weil sie so spielerisch daherkommen. 

Aufpassen: Nicht alle Tools taugen etwas

Doch kleine Apps und gamifizierte Tests taugen nicht immer. Diagnostikstandards und Datenschutz sind hin und wieder ungelöste Probleme. Und: Unternehmen müssen ihre eigenen Fragestellungen dezidiert definieren sowie die Werte ihrer Firmenkultur bei der Suche nach passenden Online-Tests in die Waagschale werfen.

Vorauswahl mit Online-Tests

Die Deutsche Lufthansa kombiniert zur Vorauswahl von Bewerbern Tests und Fragebögen aus den rund 40 psychometrischen Verfahren, die der Hamburger Anbieter Cut-e vertreibt. Das Beratungsunternehmen Aon Hewitt hat den Testanbieter gekauft, der für sich in Anspruch nimmt, jedes Jahr die Ergebnisse von zwölf Millionen Tests und Fragebögen auszuwerten. Matching-Profi oder scheinobjektive Datenkrake? Cut-e setzt klassische  Eignungstestverfahren ein und arbeitet mit Hochschulen zusammen, unterstützt Bachelor- und Masterarbeiten sowie ein studentisches Projekt zur sinnvollen Gamifizierung von psychometrischen Tests an der Fachhochschule Westküste in Schleswig-Holstein, dessen Ergebnisse in die Cut-e-Tools einfließen sollen.

Online-Assessment bei der Allianz

Die Allianz arbeitet bei der Vorauswahl mit dem Hamburger Testspezialisten Cyquest zusammen. Im Online-Assessment wechseln Testelemente, zum Beispiel zu Mathe und zur Textanalyse, und Spiele. Der Interessent erfährt unmittelbar, was ihn bei dem Versicherer erwartet. Denn Bilderrätsel zur Allianz lockern die Aufgaben auf, bei denen man den eigenen Kopf anstrengen muss. Auch wenn der schließlich raucht, bleibt der Spaß beim Klicken – in integrierten Pausenphasen wie auf der Suche nach leicht verdaulichen Sätzen zum Versicherer. „Gamification ist kein Selbstzweck“, sagt Joachim Diercks, Gründer und Cyquest-Geschäftsführer.


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Der Diplomkaufmann, der sich über den HR Excellence Award für BOA, das Programm zur Berufsorientierung für Absolventen für Zeit Online, freuen kann, setzt auf messbare Gütekriterien: „Diagnostik ist Wissenschaft. Was die spielerischen Elemente bewirken, muss man nachweisen können.“ Das gilt für die Problemlösung mit Intelligenz und Leistung wie für Kenntnisse, die vor allem bei Einsteigern abgefragt werden. „Für die Unternehmen sind Online-Assessments ökonomisch und bringen eine bessere Auswahl, für die Kandidaten bringen sie ein faireres Ergebnis, weil so mehr Merkmale berücksichtigt werden.“ Werden bei Printverfahren in der Regel zehn Bewerber von 100 eingeladen, kann man online leicht 90 von 100 testen. Der kleinere Rest stolpert über formale Hürden wie notwendige Abschlüsse.

Tests nach psychologischen Standards bewerten

Um Tests in ihrer Logik und Güte bewerten zu können, bedarf es einer Portionpsychologischen Sachverstands – das Nachrechnen kann man den Eignungsdiagnostikern überlassen. Personalverantwortliche sollten Daten zu Objektivität, Reliabilität, Validität, Usability, Normen und Akzeptanz von den Test- und Fragebogenanbietern einfordern (siehe Artikel „Humbug entlarven“ in Personalmagazin 02/2018).

Online-Plattform mit Marktübersicht

Damit nicht jeder Personaler bei null anfangen muss, sammelt Peats in Hamburg auf einer Plattform Tests, ohne sie zu bewerten oder gar zu ranken. Einheitlich vorgegeben werden Parameter wie etwa theoretische Grundlage, Datenschutz, Normgruppe, Zertifizierung, Gütekriterien. Fehlen Aussagen, sieht das der User sofort, denn in der Zeile steht „Bitte ergänzen Sie die Angaben.“ Peats-Geschäftsführerin Jennifer Julie Frotscher: „Wir mussten bisher noch keinen Anbieter ablehnen, denn die Anbieter selektieren sich selbst und der Markt wird sich regulieren.“

Frotscher will die Unabhängigkeit ihrer Plattform durch ein Mitglieder-Modell gewährleisten. Provisionen und Anzeigen gibt es nicht. In sechs Monaten haben über 120 Testanbieter ihre Daten hinterlegt – manche mit eher knappen Informationen, andere differenziert inklusive Hinweisen zum Testmanual. Für Arbeitspsychologen ist das Fehlen dieser Daten ein KO-Kriterium, für manch anderen Nutzer mit präzisen Fragen an die Personalauswahl kann das Manual weniger relevant sein. „Das Wichtigste ist es, den Anwendermarkt zu schulen“, betont Frotscher, die zu Eignungstests über 100 Workshops veranstaltet hat.

Gamification im Persönlichkeitstest

Das Tool „Reflector Big Five Personality“der PI Company in Düsseldorf bezieht sich, wie schon der Name sagt, auf das Big-Five-Modell, das die Hauptdimensionen Stabilität, Extrovertiertheit, Offenheit, Umgänglichkeit und  Gewissenhaftigkeit herausschält. Wird diese wissenschaftliche Basis gut umgesetzt, erzeugt das ein zustimmendes Nicken der Eignungsdiagnostiker. PI verkauft sowohl die Lizenzen als auch Beraterunterstützung.

Das Big-Five-Modell ist ebenfalls die Basis von Stepstones Good & Co, einer Psychometrie-App, mit der das Matching von Jobprofilen aus Stellenanzeigen mit der Persönlichkeit des Nutzers perfektioniert werden soll. Sehr verspielt kommt der Selbsttest mit farbenfrohen Stereotypen  daher. Der Fürsprecher erinnert in weißem Ornat an den Papst, der Erfinder hat wohl nicht ganz zufällig eine Frisur wie Einstein. Unternehmen können ihre Teams davon überzeugen, den Test zu machen, um auf dem Arbeitsmarkt den passenden Kollegen zu finden. Diese extreme Variante von Hans sucht Hänschen wird Betriebsräte beschäftigen – auch wenn die Datensammlung auf freiwilliger Basis geschieht. Und Datenschützer goutieren die Zugänglichkeit der Daten wohl eher nicht.


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Auf seiner Plattform persoblogger.de hat Stefan Scheller das Tool getestet und sieht durchaus Diskussionsbedarf. HR-Blogger Scheller warnt davor, dass die Show die Oberhand gewinnt bei dem Versuch, die ideale Personalentscheidung zu treffen. Das betrifft Sprachanalyse-Tools und Gesichtserkennung, die er für fragwürdig hält, auch wenn die Videobewerbung ihren Siegeszug fortsetzt. Ebenso hinterfragt er den Einsatz von

Intelligenztests. „Der Rückschluss von Intelligenz auf Leistung ist nicht bewiesen“, meint Scheller. „Ein intelligenter Mitarbeiter kann auch klug genug sein, Arbeit zu vermeiden.“

Langfristig denken statt HR-Trends hinterherzurennen

Profile International beschreibt für den Test „Profile XT“ die Skalen Verhaltensmerkmale, Berufsinteressen, Denkmuster. Neben Sprach- und Ländergruppen werden zur Normierung Geschlecht und Alter angegeben. Die Berater integrieren Workshops zur Einführung und kontinuierlichen Kunden-Support.

Dieses langfristige Denken ist bei der Wahl eines digitalen Tools durchaus angebracht. Statt das trendigste neue Instrument zu nutzen, gilt es, langfristig zu beurteilen, was der Einsatz bringen soll – eine Evaluation bringt Klarheit, ob die Anbieterversprechen gehalten wurden.


Dieser Artikel ist zunächst in Personalmagazin, Ausgabe 02/2018 erschienen.

Schlagworte zum Thema:  Personalauswahl, Recruiting