Der Purpose verleiht Organisationen sektenhafte Züge

Zu schön, um wahr zu sein: Die Pur­pose Driven Orga­ni­zation vereint die Träume selbst­verwalteter Betriebe, politischer Basis­initiativen und uto­pischer Lebens­gemeinschaften. Und schafft es damit in den Main­stream des Managements. Grund genug für den Organisations­soziologen und Organi­sationsberater Stefan Kühl, auf die Grenzen des Konzeptes hinzuweisen.

personalmagazin: Unternehmen als Orte, an denen Menschen täglich Sinn stiften. Klingt ein wenig idealistisch, aber eigentlich doch ganz schön. Was stört Sie daran?

Stefan Kühl: Auf den ersten Blick klingt das zunächst einmal plausibel. Denn ein Unternehmen, das Profitmaximierung als einzigen Zweck ausgäbe, würde sicherlich Irritationen auslösen. Aber gerade die organisationswissenschaftliche Forschung hat gezeigt, dass ein auf Sinn ausgerichtetes Unternehmen erhebliche Probleme mit Wandel hat – oder sogar am Purpose zugrunde gehen kann. Eine Zweckverhaftung macht Mitarbeiter und damit auch das Unternehmen unflexibel.

personalmagazin: Können Sie das erläutern?

Kühl: Das systemtheoretische Argument gegen einen Verabsolutierung der Orientierung am Purpose lautet: Sobald Mitarbeiter sich mit einem Zweck identifizieren müssen, schränkt die Organisation selbst ihre Wandlungsfähigkeit erheblich ein. Doch gerade das ist häufig überlebensnotwendig – sich Umwelteinflüssen anpassen zu können. Deshalb birgt der Zweck als Motivationsmittel Risiken, Geld hingegen die Möglichkeit, flexibel zu agieren. Es schafft eine bezahlte Indifferenz, also eine Gleichgültigkeit der Mitarbeiter gegenüber dem Zweck. Darin sehe ich einen Vorteil.

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personalmagazin: Also Geld als Motivationshebel. Es gibt zahlreiche Studien, die dem wiedersprechen.

Kühl: Wenn das stimmen würde, könnten Unternehmen, Verwaltung oder Krankenhäuser die Gehaltszahlung an ihre Mitarbeiter ja sofort einstellen. Das würde ihre Bilanzen deutlich verbessern. Es gibt in Organisationen unterschiedliche Motivationsfaktoren – attraktive Tätigkeiten, sinnstiftende Zwecke, kollegialer Zusammenhalt, mehr oder minder hohe Geldzahlungen und zum Beispiel im Fall von Wehrpflichtarmeen auch ein notfalls mit körperlicher Gewalt durchgesetzter Zwang. Je nach Typus der Organisation spielen die Motivationsfaktoren unterschiedliche Rollen. Je mehr eine Organisation mit sinnstiftenden Zwecken oder attraktiven Tätigkeiten wuchern kann, desto geringer können Geldzahlungen sein. In einer Umweltschutzinitiative engagiere ich mich, weil ich den Zweck sinnvoll finde oder mir die Tätigkeiten in der Natur Spaß machen, nicht weil ich Geld bekomme. Teilweise bezahle ich sogar für die Mitgliedschaft. Was ich im Moment beobachtete, ist, dass viele Unternehmen und Verwaltungen in Bezug auf die Sinnhaftigkeit ihrer Zwecke und die Attraktivität ihre Handlungen in einem fast skurrilen Maße überschätzen. Die Männer und Frauen, die tagtäglich unseren Müll von den Straßen und aus den Büros kehren, sollte man anständig bezahlen, anstatt ihnen einreden zu wollen, wie sinnhaft ihr Beitrag zum Umweltschutz ist.

Purpose macht Organisationen gierig

personalmagazin: Sie kritisieren die sachlich-inhaltliche Komponente der Purpose-Definition, der zufolge der Zweck eine Art Navi­ga­tionshilfe bietet. Wie sieht es mit der emotionalen Ebene aus?

Kühl: Sinn kann sicherlich motivierend wirken. Das zeigen Parteien, Vereine oder Clubs, denen Menschen beitreten, weil sie deren Zwecke und Ziele sinnvoll finden. Dies ermöglicht, Emotionen in einem ungewöhnlichen Maße in Organisationen freizusetzen. Der amerikanische Soziologie Lewis A. Coser beobachtet ein solches Verhalten besonders in sogenannten "gierigen Organisationen", die danach streben, Mitarbeiter mit all ihren sozialen Bezügen aufzusaugen.

personalmagazin: Was bedeutet das für eine Purpose-getriebene Organisation?

Kühl: Unternehmen haben begriffen, dass Gier in Bezug auf ihre Mitarbeiter funktional sein kann. Das zeigt sich häufig bei Start-ups oder in der Kreativwirtschaft. Etwas überspitzt ausgedrückt – New-Work-Konzepte propagieren tendenziell gierige Organisationsvorstellungen. Das Unternehmen möchte auf alle Ressourcen des Mitarbeiters zugreifen – Kreativität, Eigenverantwortung, Identifikation – und lädt Emotionalität deshalb positiv auf. In dem Moment, in dem Mitarbeiter wirklich daran glauben und Purpose nicht nur eine Steuerungsphantasie des Managements bleibt, hat das starke ideologische Züge.

personalmagazin: Und die Mitarbeiter?

Kühl: Im Idealzustand wäre deren Zweck mit dem der Organisation identisch. Das heißt, sie wären bereit, einen hohen persönlichen Einsatz zu bringen – und mehr oder weniger kostenlos zu arbeiten – oder sogar dafür zu bezahlen. Wenn wir über eine Purpose-Driven-Organisation in Reinform reden wollen, dann sollten wir über die TAZ, die Bhagwan-Sekte oder die Rote Armee Fraktion reden. Das sind politische und religiöse Sekten, die mit einem sinnhaft empfunden Zweck in der Lage waren, ihre Mitglieder mit all ihren Rollenbezügen zu binden.

Selbst NGOs haben sich vom Purpose teilweise entkoppelt

personalmagazin: Bei Organisationen wie Greenpeace scheint die Zweckausrichtung aber doch ganz gut zu funktionieren. Wie erklären Sie sich das?

Kühl: Es gibt sicherlich Ausnahmen, die nahe an die Idealvorstellung einer Purpose-getriebenen Organisation kommen – besonders sind das jene, die aus einem politischen oder religiösen Zweck heraus entstanden sind. Dort spielt der Sinn eine tragende Rolle. Jedoch wären sie nicht so erfolgreich, würden sie sich nicht in entscheidenden Bereichen vom Purpose entkoppeln. Hier zeigt sich eine Entwicklung, Zweck der Organisation und Motivation der Mitarbeiter zumindest teilweise zu trennen. Greenpeace ist dafür ein gutes Beispiel. Aus meiner Sicht sind sie gerade deswegen so einflussreich, weil sie über eine Vielzahl gut bezahlter und in eine klare Hierarchie eingebundene Mitarbeiter verfügen, die sie unabhängig vom Purpose schnell und flexibel einsetzen können. Robin Wood, eine Umweltschutzorganisation mit ähnlicher Zielsetzung, die etwa zur selben Zeit entstanden ist, agiert noch immer basisdemokratisch und ist damit lange nicht so erfolgreich. 

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personalmagazin: Sehen Sie einen Zusammenhang zwischen Purpose und Performance?

Kühl: Es gibt Unternehmen, die den Purpose radikal umsetzen, die dafür da sind, dass sich ihre Mitarbeiter wohlfühlen. Doch dann stellt sich die Frage: Sind das automatisch diejenigen, die wirtschaftlich am erfolgreichsten sind oder die Kunden zufriedenstellen? Bei der Purpose-Diskussion wird so getan, als könnten alle Bedürfnisse, die von Mitarbeitern, Kunden, Shareholdern, gleichzeitig befriedigt werden. Und dann soll auch noch ein gesellschaftlicher Beitrag geleistet werden. Das halte ich für eine naive Wunschvorstellung.

personalmagazin: Und doch scheinen Unternehmen genau das zu tun. Wie erklären Sie sich das?

Kühl: Ich sehe den Purpose als aktuelles Management-Gimmick in Unternehmen, eine neue Variante der Leitbild-Diskussion, die wir noch vor zehn Jahren geführt haben.

personalmagazin: Welchen Schluss ziehen Sie daraus?

Kühl: Ich gehe jede Wette ein, dass spätestens bei der nächsten Rezession, also in zwei, drei Jahren, niemand mehr über durch Purpose getriebene Organisationen sprechen wird. Aber als gerade aktuelle Management-Mode kann man sie selbstverständlich nutzen – beispielsweise, um Selbstverständigungsprozesse in Organisationen durch eine aktuelles Managementkonzept zu rahmen. Viele Organisationen sollten aber ihre Sinnstiftungspotenziale für die Mitarbeiter nicht überschätzen.

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld und Organisationsberater beim Unternehmen Metaplan in Hamburg.

Dieses Interview ist in vollständiger Länge in der Ausgabe 06/2019 des Personalmagazin mit dem Schwerpunkt "Purpose" zu lesen oder in der kostenlosen Personalmagazin-App.


Schlagworte zum Thema:  HR-Management, Unternehmenskultur