Die sechs Dimensionen der agilen Organisation


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Kapitel
Agile Organisation: wie Unternehmen agil werden

Agile Organisation - was heißt das konkret in der Praxis? Wie können Unternehmen agil werden? Andre Häusling und Professor Stephan Fischer zeigen die sechs Dimensionen einer agilen Organisation auf.

Dass Agilität für Unternehmen im digitalen Wandel überlebensnotwendig ist, haben viele Führungskräfte erkannt. Aber die Frage "Wie können wir als Organisation agiler werden?" bleibt in der Praxis häufig ungelöst.

Agile Organisationsentwicklung in sechs Dimensionen

Um die Transformation von der klassischen zur agilen Organisation besser erklärbar zu machen, hat die auf Agilität spezialisierte Unternehmensberatung HR Pioneers das „Trafo-Modell“ entwickelt. Dafür haben wir sechs zentralen Dimensionen einer agilen Organisation identifiziert, innerhalb derer Unternehmen die agile Transformation angehen müssen:

  • Das agile Zielbild
  • Kundenorientierte agile Organisationsstruktur
  • Iterative Prozesslandschaften
  • Mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis
  • Agile Personal- und Führungsinstrumente
  • Die agile Unternehmenskultur

Erstens: Das agile Zielbild

Agile Organisationen haben ein agiles Zielbild oder eine Vision für das Thema Agilität im Unternehmen zu haben. Die "agile Vision" sollte verschiedene Komponenten beinhalten, zum Beispiel ein Zielbild agiler Organisationsstrukturen, einer agilen Unternehmenskultur und auch eines agilen Führungsverständnisses. Damit wird deutlich, wo und wie die Organisation verändert werden muss.

Ein häufiges Beispiel aus der Praxis: Viele Unternehmen starten agile Veränderungsprozesse in ihren IT-Bereichen. Nach einiger Zeit stellt sich die Frage, ob Agilität nur auf Projekt- oder Produktentwicklungsebene verstanden werden soll oder doch für weitere Bereiche der Organisation. Spätestens dann hilft es, eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln, wie mit der „Agilität“ des Unternehmens umgegangen wird. Denn nur so kann die agile Transformation systematisch angegangen, gesteuert und vorangetrieben werden.

Zweitens: Kundenorientierte agile Organisationsstruktur

Traditionelle Organisationen fokussieren sich sehr stark auf sich selbst. Sie denken in Pyramiden und Silos. Agile Unternehmen hingegen richten ihre Strategie an dem Kunden aus und streben eine Maximierung des Kundennutzens an. Dies bedeutet, dass sie beginnen, ihr Unternehmen konsequent in allen Bereichen vom Kunden her zu denken.

In der Praxis entwickeln agile Organisationen netzwerkartige Strukturen oder bringen die Ablauforganisation mithilfe von cross-funktionalen Teams in Richtung Kunde in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns. Die Aufbauorganisation rückt in den Hintergrund, weil dort keine unmittelbare Wertschöpfung stattfindet. Sie wird nun als Befähiger der Ablauforganisation verstanden. Dies setzt in der Praxis aber ein großes Umdenken im Selbstverständnis und der Haltung der Linienführungskräfte voraus.

Drittens: Iterative Prozesslandschaften

Bisher ist es in traditionellen Organisationen üblich, Projekte und Produkte wasserfallartig zu planen. Fünf-Jahrespläne führen zu „erzwungenen Lügen“, weil noch keiner weiß, was wirklich passieren wird. Es wird viel Zeit auf das Planen und Konzipieren verwendet, bis schließlich nach Monaten erste Ergebnisse präsentiert werden. In agilen Unternehmen steht nicht nur bei der Organisationsstruktur der Kunde im Fokus, sondern auch bei den Prozessen. Das heißt: Kurze Sprints statt lange Planungszyklen.

Um die Kundenbedürfnisse möglichst rasch bedienen zu können, setzen agile Unternehmen auf ein iteratives Vorgehen und das Liefern in Inkrementen, also kurzfristigen Ergebnissen. Hierfür nutzen sie häufig Vorgehensmodelle wie zum Beispiel Scrum. Dadurch können dem Kunden sehr schnell Ergebnisse präsentiert werden.

Die Teams arbeiten so eng am Kunden, dass ein entsprechend hoher Grad an Selbstverpflichtung herrscht und sie sich gegenüber dem Kunden als ergebnisverantwortlich zeigen. Dies führt zu einer ausgeprägten Selbstverantwortung der Mitarbeiter.

Fazit: Agile Prozesse sind interativ und inkrementell. Sie fokussieren auf kurzfristige Ergebnisse und ermöglichen eine schnelle Anpassungsfähigkeit an veränderte Rahmenbedingungen.

Viertens: agile Organisation führen - Mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis schaffen

In den traditionellen Organisationen arbeiten die Mitarbeiter für die funktionalen Führungskräfte, die Führungskräfte sind als ausgebildete Experten häufig der Engpass oder erzeugen auch sehr stark über Vorgaben Druck, um Ergebnisse zu erzielen. In agilen Organisationen ändert sich die Rolle der Führungskräfte komplett und damit auch die Anforderung an deren Kompetenzen und Haltungen. Die Führungskraft stellt sich in den Dienst der Teams, um zusammen schneller Nutzen für den Kunden zu schaffen. Dieses „sich-in-den-Dienst-Stellen“ wird auch als das Prinzip des „Servant Leadership“ verstanden. Die Führungskraft will damit den Reifegrad der Mitarbeiter erhöhen, um den Teams weitere Verantwortung übertragen zu können. Damit können wiederum Kundenbedürfnisse noch besser bedient werden.

Ein Verständnis für agile Führung in Unternehmen ist von einer anderen Haltung der Führungskräfte geprägt als bisher. Hier zeigt sich in der Praxis häufig, ob Agilität nur ein Modewort in den Unternehmen ist oder die Prinzipien und Werte verinnerlicht worden sind.

Fünftens: Agile Personal- und Führungsinstrumente

In traditionellen Organisationen wird HR oftmals als reiner Administrator wahrgenommen. HR steht weit weg vom echten Geschäftsleben und gilt sogar als Verhinderer von Agilität. Wenn sich aber das Führungsverständnis verändern soll, benötigen Unternehmen andere Personal- und Führungsinstrumente. Welchen Beitrag HR konkret zur agilen Organisation leistet lesen Sie im Artikel "Agiles HR-Management".

In agilen Organisationen übertragen nicht nur Führungskräfte Verantwortung und Aufgaben zunehmend in die cross-funktionalen Teams, auch die HR-Bereiche treiben dies an. Dies kann zum Beispiel die vollständige Übertragung der Verantwortung für die Entwicklung der Mitarbeiter (in Form von "Peer Feedback") oder auch Verantwortungsübergabe in Recruiting-Prozessen sein. Die Mitarbeiter werden dafür stärker in die HR-Prozesse eingebunden, passend zur vorherrschenden ausgeprägten Feedbackkultur. Das bedeutet, dass HR im Dialog mit Mitarbeitern und Führungskräften arbeitet und mit einem klaren Kundennutzen Werte schafft. HR ist der entscheidende Katalysator agiler Transformation. Ohne HR werden agile Transformationen scheitern. Leider sind in der Praxis die wenigsten Bereiche dafür aufgestellt.

Sechstens: Die agile Unternehmenskultur

Die Kultur der traditionellen Organisationen verhindert häufig ein höheres Maß an Agilität. Absicherungsmechanismen, Monologe, enge Regeln, viele standardisierte Vorgaben oder wenig Entscheidungsfreiheiten für Mitarbeiter sind Elemente solcher Kulturen. Agile Organisationskulturen sind geprägt von Transparenz, Dialog, einer Haltung des Vertrauens sowie von kurzfristigen Feedbackmechanismen. Diese Merkmale zeigen sich auch darin, dass eine proaktive Wissensweitergabe erfolgt und offen und konstruktiv mit Fehlern umgegangen wird. Viele bisherige Statussymbole werden unwichtiger, weil auf Augenhöhe gehandelt wird. Agile Organisationen haben eine Kultur, die Veränderungen willkommen heißt. Dies ermöglicht eine deutlich schnellere Anpassung der Organisation an neue Rahmenbedingungen, was ein elementarer Wettbewerbsvorteil der Zukunft sein wird.

Fazit: So gelingt die Tranformation zur agilen Organisation

Idealerweise gelingt es den Unternehmen, die Veränderungen auf diesen sechs Dimensionen des Trafo-Modells in Einklang zu bringen. So lässt sich die größtmögliche Wirkungskraft erzielen, da nur in einem Zusammenspiel der Veränderungen auf den unterschiedlichen Dimensionen die volle Wirkungskraft der Agilität erreicht werden kann. In der Praxis sehen wir, dass eine Dimension als Engpass für die Organisation ausreicht, um den Reifegrad an Agilität stagnieren zu lassen. Das Prinzip lautet somit, dass jede einzelne Dimension die Entwicklung an Agilität begrenzen kann. Es ist also essenziell, immer den entscheidenden Engpass in den Dimensionen zu ermitteln und zu lösen, um den Reifegrad an Agilität zu steigern.

Mehr zu den Rahmenbedingungen, die eine agile Organisation braucht, lesen Sie hier.

Exkurs: Organisationale Ambidextrie und "duales Betriebssystem"

In der Diskussion um die agile Organisation tauchen auch immer wieder die Begriffe "Ambidextrie" und "duales Betriebssystem" auf. Was ist damit gemeint?  Unternehmen sind heutzutage einerseits gefordert, innovativ zu sein und immer schneller und flexibler auf Marktanforderungen zu reagieren - und das bei steigender Komplexität. Andererseits dürfen sie ihr Brot-und-Butter-Geschäft mitsamt den etablierten Prozessen und Vorgehensweisen nicht vernachlässigen. Um das "zarte Pflänzchen der Agilität" im Unternehmen zum wachsen zu bringen,  müsse das Management die Klaviatur beider Organisationsformen, also agile Netzwerke sowie die hierarchisch geprägte Top-down-Struktur bedienen, meint Marc Stoffel, CEO von Haufe-umantis (mehr dazu in "Agile Trnsformation: von starren Prozessen zu agilen Netzwerken"). Unternehmen müssen also "beidhändig" ("ambidexter") agieren. Für diese so genannte organisationale Ambidextrie hat sich auch das Konzept vom doppelten Betriebssystem etabliert. So empfiehlt beispielsweise Management-Guru John Kotter: Unternehmen sollten über die klassische Organisation ein "zweites Betriebssystem" legen, um agil zu werden. Wie das in der Praxis gelingt, erläutert Leadership-Berater Michael Fuhrmann, der Unter­nehmen bei der Umsetzung dualer Betriebssysteme begleitet hat, im Interview.​​​​​​​

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