Mindestlohnprobleme in der Praxis
Ist der monatliche Abschlag einer regelmäßigen Provisionszahlung auf den Mindestlohn anzurechnen? Sind Zulagen oder Sachbezüge mindestlohnfähig? Wie sieht es mit regelmäßigen Nachtzuschlägen aus? Dies ist nur ein winziger Ausschnitt aus der Fülle von Detailfragen, die sich während der bisherigen Laufzeit des Mindestlohngesetzes angesammelt haben. Sie zeigen jedoch: Die Vorgaben des Gesetzes haben Diskussionen zu unzähligen dieser Einzelfragen ausgelöst und auch Arbeitsgerichte haben zwischenzeitlich eine reichhaltige Rechtsprechung dazu entwickelt.
Praxisproblem 1: Der tarifliche Mindestlohn geht vor
Das Hauptproblem bei der Konzeption des Mindestlohngesetzes lag entgegen vieler Unkenrufe nicht darin, die neue gesetzliche Lohnuntergrenze einzuhalten. Im Gegenteil: Nicht selten hatten Unternehmen bereits bei Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes freiwillig das Lohnniveau eingehalten, was ihnen mit den neuen Regeln staatlicherseits vorgeschrieben wurde.
Einfach nur an den gesetzlichen Mindestlohn halten, mit diesem Hinweis war und ist es jedoch in vielen Branchen nicht getan. Der Grund: Mit dem Mindestlohngesetz wurde die Möglichkeit erheblich vereinfacht, Tarifverträge durch staatlichen Akt für allgemeinverbindlich zu erklären, sie damit im Ergebnis auf die Ebene eines Gesetzes zu erheben. Mit anderen Worten: Die weitreichenden Überprüfungs- und Sanktionsvorschriften, gelten für den gesetzlichen wie für den tariflichen Mindestlohn gleichermaßen.
Mindestlohn: Welcher gilt denn nun im Unternehmen?
Wie aber erfährt ein Unternehmer, ob für ihn statt des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns ein mitunter erheblich höherer tariflicher Lohn gilt? Diese Frage, so wird häufig kritisiert, lässt sich weder durch den Text des Mindestlohngesetzes beantworten, noch besteht die Möglichkeit einer verbindlichen behördlichen Anfrage. Es wird den Unternehmern überlassen, sich in Eigeninitiative um die wichtige Vorfrage nach einem speziellen tariflichen Mindestlohn zu kümmern. Die Antwort hierauf ist kein einfaches Unterfangen, denn dafür muss der Unternehmer zunächst ergründen, zu welcher Branche er gehört. Das kann im Einzelfall schwierig sein, gibt es doch nicht wenige Unternehmen, die Mischtätigkeiten ausüben.
Das ist jedoch nicht alles: Nur wenige Tarifverträge sind bundesweit einheitlich zu beachten. So kann gegebenenfalls der Firmensitz entscheidend sein, was bei überregional agierenden Unternehmen zum Problem werden kann. Wer dann den für ihn einschlägigen Mindestlohn-Tarifvertrag identifiziert hat, muss diesen permanent im Auge behalten.
Personalabteilungen müssen Tarifverträge im Blick behalten
Der Grund: Anders als beim gesetzlichen Mindestlohn ist die Laufzeit der Tarifverträge keinem System unterworfen. Nicht wenige Tarifverträge enden beispielsweise unterjährig. Entsprechende Kontrollen und Wiedervorlagen werden hier für die Personalabteilungen zur Pflicht.
Dazu kommt: Der tarifliche Mindestlohn kann bezüglich der Qualifikation (zum Beispiel nach der Einstufung als Helfer oder Geselle) differenzieren. Besonders kompliziert wird es dann, wenn unterschiedliche Mindestlöhne nach Lohngruppen ausgewiesen werden. Hier wird den (eigentlich tariflosen) Unternehmern nichts anderes übrigbleiben, als in den Manteltarifvertrag zu schauen, dem sie ja eigentlich nicht unterliegen, um erst auf diesem Wege eine richtige Einstufung im Sinne des Mindestlohns vornehmen zu können.
Undurchschaubares System von Mindestlohn-Verträgen
Fazit: Die Aussage „Es gibt einen gesetzlichen Mindestlohn“ ist irreführend. Vielmehr ist ein undurchschaubares System von allgemeinverbindlichen Mindestlohn-Tarifverträgen zu beachten. Anders als beim gesetzlichen Mindestlohn kann es beim tariflichen in vielerlei Hinsicht Überraschungen geben, welcher Eurobetrag tatsächlich zu zahlen ist. Praktiker wünschen sich daher eine amtliche Datenbank, die bei entsprechender Anmeldung idealerweise über Veränderungen in der Mindestlohnhöhe per E-Mail informiert.
Praxisproblem 2: Die Berechnung des Mindestlohns auf Stundenbasis
Dem Mindestlohngesetz liegt das Prinzip zugrunde, dass Arbeitnehmer nach Arbeitsstunden abgerechnet werden. Dementsprechend sind bei einer Betriebsprüfung des Zolls und der Sozialversicherung stets die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden maßgebend. Dazu kommt, dass das Mindestlohngesetz von einer strengen monatlichen Betrachtungsweise ausgeht. Für besondere Branchen und für alle geringfügig Beschäftigten besteht darüber hinaus die Verschärfung, dass zusätzliche Dokumentationen über Beginn und Ende der Arbeitszeit vorliegen müssen.
Dass mittlerweile ein Großteil der Beschäftigungsverhältnisse auf monatlicher Gehaltszahlung basiert und es eine Vielzahl von Vertragsverhältnissen gibt, bei denen schwankende Arbeitszeitvolumen bei gleichbleibendem Gehalt bestehen, wird dabei ignoriert. Als einziges Korrelat hält hier das Mindestlohngesetz die Möglichkeit bereit, über ein gesondert zu vereinbarendes Überstundenkonto von Fall zu Fall den zulässigen Mindestlohn zu unterschreiten, um dann innerhalb bestimmter Fristen einen Ausgleich herbeizuführen.
Arbeitszeit: Es fehlt eine brauchbare Lösung in der Praxis
Dass die Stunden- und Monatsbetrachtung des Mindestlohngesetzes für die Praxis oft untauglich ist, hatte sich schon wenige Wochen nach Inkrafttreten anhand von zahlreichen Anfragen gezeigt. Vor allem bei den gerade im Niedriglohnbereich oft vorkommenden Tätigkeiten, wie Winterdienst oder anderen tätigkeitsimmanenten Rahmenbedingungen, lässt sich eine praktische Vertragsgestaltung über das bürokratische Überstundenkonto nicht bewerkstelligen. Dies musste auch die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles einräumen, die – gewissermaßen als Duldungserlass – akzeptierte, dass auch mit Arbeitszeitvereinbarungen, die eine durchschnittliche Arbeitszeit beinhalten, operiert werden könne. Eine für die Praxis brauchbare Lösung, ist ein solches Ministerschreiben jedoch nicht, sodass in arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Sicht bei Arbeitszeitabreden mit durchschnittlicher Arbeitszeit alles andere als Klarheit besteht.
Mindestlohngesetz nur über Umwege anwendbar
Fazit: Das Mindestlohngesetz ist bei einer Vielzahl von Vertragsgestaltungen nur über Umwege anwendbar. Dies führt dazu, dass bei sämtlichen Vertragsverhältnissen, bei denen die Arbeitszeit entweder keine entscheidende Rolle spielen soll oder auf flexiblen Regelungen monatsübergreifend basiert, improvisiert werden muss – auf Kosten der Rechtssicherheit. Der Praktiker im Unternehmen wünscht sich daher in diesen Fällen eine Gesetzesänderung, um die für die Praxis risikoreiche reine Duldung von durchschnittlichen Arbeitszeitvereinbarungen auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen.
Mehr zum Thema, insbesondere zum "Phantomlohnrisiko" und weshalb die eigentlichen Mindestlohnprüfer jene der Sozialversicherung sind, lesen Sie im kompletten Text des Autors im Personalmagazin, Heft 06/18 oder in der
Personalmagazin-App.
Der Autor Thomas Muschiol ist Rechtsanwalt im Arbeits- und betrieblichen Sozialversicherungsrecht in Freiburg.
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