EU darf keine Mindestlohn-Kriterien vorgeben
Das Urteil war zu erwarten, denn der Generalanwalt, dessen Aufgabe es ja immer ist, im Vorfeld der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs ein Votum zu erstellen, hatte dies bereits so gesagt: Der EuGH erklärt nun die Bestimmung für nichtig, in der die Kriterien aufgeführt sind, die von Mitgliedstaaten, in denen es gesetzliche Mindestlöhne gibt, bei der Festlegung und Aktualisierung dieser Löhne zwingend zu berücksichtigen sind. Europa ist nur dort zuständig, wo die Verträge es dazu ermächtigt haben. Es gilt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung.
Europäischer Mindestlohn wäre gar nicht sinnvoll
Für die Regelung des Arbeitsentgelts fehlt diese Ermächtigung. Beim Mindestlohn sind die nationalen Traditionen so verschieden, dass wir eine einheitliche europäische Regelung gar nicht erst anstreben. Ein europäischer Mindestlohn einheitlich für Bulgarien und Luxemburg ist offensichtlich sinnlos – und es ist auch schon nicht sinnvoll, ihn in der Höhe zwar national zu variieren, ihn aber nach gleichen Kriterien bemessen zu wollen. Wo starke Tarifpartner sind, wo es ein solides System sozialer Sicherung gibt, da hat der Mindestlohn eine andere Funktion, als in Mitgliedstaaten, die auf beides verzichten müssen. Sich darüber hinwegzusetzen, war starker Tobak und eben ein weiterer Fall von "ultra vires", einem Handeln europäischer Institutionen jenseits der Grenzen der Ermächtigung durch das sie legitimierende Vertragswerk, wie es das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf das Handeln der EZB festgestellt hat.
Wortlaut des Europarechts unzweifelhaft
Die Höhe des Mindestlohns bleibt damit fest in nationaler Hand. Sie bleibt "domaine réservée" der Mitgliedstaaten. Etwas anderes hätte angesichts des klaren Wortlauts des Europarechts ("Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt") und dessen gut dokumentierter Entstehungsgeschichte zu einem massiven Vertrauensverlust in die dogmatische Stimmigkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofs geführt. Der Vorwurf ungehemmt europafreundlicher Rechtsauslegung wäre (noch) lauter geworden.
Nationaler Mindestlohn kann sich an anderen Kriterien orientieren
Das Mindestlohngesetz kann also so bleiben, wie es ist. Nach Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie umfassen die maßgeblichen Kriterien zur Bestimmung des Mindestlohns mindestens die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung, die Wachstumsrate der Löhne sowie langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen. Der EuGH hat die Richtlinie nicht insgesamt verworfen, sondern eben nur da, wo sie europarechtlich offensichtlich angreifbar war. Die ein oder andere europakritische Stimme hatte vielleicht mehr erhofft – nachvollziehbar, aber zu unrecht. Indem aber "der Unionsgesetzgeber die Berücksichtigung dieser Bestandteile in den Verfahren zur Festsetzung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne verlangt hat, hat er ein Erfordernis in Bezug auf die Bestandteile dieser Löhne aufgestellt, das sich entgegen den Ausführungen in Art. 5 Abs. 1 letzter Satz der angefochtenen Richtlinie unmittelbar auf die Höhe dieser Löhne auswirkt… Folglich führt Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie zu einer Harmonisierung einiger Bestandteile dieser Dienstbezüge und damit zu einem unmittelbaren Eingriff des Unionsrechts in die Festsetzung der Dienstbezüge innerhalb der Union ...".
Der EuGH macht deutlich: Nationaler Mindestlohn kann sich an anderen Kriterien orientieren. Und die Kriterien der Richtlinie unterscheiden sich in der Tat durchaus vom deutschen Mindestlohngesetz: "Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung."
Letzte deutsche Mindestlohnerhöhung noch gerechtfertigt?
Für Deutschland heißt die aktuelle Entscheidung aber auch: Stimmen, die die letzte Erhöhung des Mindestlohns auf bis hin zu 14,60 Euro die Stunde mit dem Europarecht gerechtfertigt haben, haben ihre Grundlage verloren. Man wollte gleichsam über Bande spielen. Die Mindestlohnkommission nahm ja in ihrer Geschäftsordnung das 60-Prozent-Mediankriterium vorweg, das in der Präambel der Richtlinie formuliert ist ("Die Mitgliedstaaten sollten Indikatoren und entsprechende Referenzwerte verwenden, um die Angemessenheit des gesetzlichen Mindestlohns zu beurteilen … Die Bewertung könnte sich auf international übliche Referenzwerte stützen, wie die Höhe des Bruttomindestlohns bei 60 Prozent des Bruttomedianlohns …").
Man erinnere sich: Noch vor gut einem Jahr erklärte der damalige Bundesarbeitsminister im ARD-Morgenmagazin, laut einer EU-Richtlinie müsse der Mindestlohn in Deutschland deutlich über 14 Euro liegen. Sei das nicht der Fall, müsse er im November der EU-Kommission mitteilen, dass das deutsche Recht nicht der EU-Richtlinie zum Mindestlohn entspreche. Das war schon damals europarechtlich mutig, aber nun zeigt sich: Zweifel an der Rechtmäßigkeit des letzten Beschlusses haben eine neue Grundlage bekommen. Der EuGH hat das Kriterium zwar gerade auch im Bezug auf das Vorbringen der Bundesregierung gebilligt, aber nur weil es eben kein bindendes Kriterium sei. Man wird abwarten, was folgen wird. Jüngste Stellungnahmen im arbeitsrechtlichen Schrifttum machen deutlich, dass die hier die Diskussion gerade erst begonnen hat.
EuGH-Entscheidung als guter Schritt für Europa
Die Suche nach der richtigen Höhe des Mindestlohns wird weitergehen – politisch, ökonomisch und sicher auch juristisch. Es dient der Glaubwürdigkeit des Gerichtshofs, wenn er eben auch einmal gegen europarechtliche Expansion entscheidet, und die Gesetzgebung auf das zurückführt, für was sie legitimiert ist. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung ist eben ernst zu nehmen. Europa und vor allem die so wichtige soziale Sicherung durch Europa erfahren dadurch keinen Rückschlag. Die Entscheidung schafft vielmehr die Chance für ein solideres rechtliches Fundament, auf das eine kommende, passgenauere Architektur aufbauen kann. Die Chance hat der EuGH genutzt – im Interesse aller. Die Entscheidung ist ein guter Schritt für Europa und auch für die Entwicklung des Mindestlohns.
Hinweis: EuGH, Urteil vom 11. November 2025, Rechtssache C-19/23
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