Rz. 33
Grundsätzlich kann jeder Versicherte entscheiden, ob er
- bei antragsabhängigen Sozialleistungen (§ 19 Satz 1 SGB IV) einen Leistungsantrag stellen will oder nicht,
- einen gestellten Antrag wieder zurücknehmen will oder
- bestimmen will, dass der Reha-Antrag nicht die Wirkung eines Rentenantrages haben soll oder
- – falls er mit einer Umwandlung des Rehabilitationsantrags in einen Rentenantrag einverstanden ist – die Rente erst später beginnen soll.
Demgemäß ist es nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich statthaft, einen Rentenantrag bis zum Ergehen eines Rentenbescheides und auch darüber hinaus – etwa bis zum Ablauf der Widerspruchsfrist – zurückzunehmen.
Dieses gilt jedoch nicht, sobald die Krankenkasse den Versicherten zur Stellung eines Rehabilitationsantrags aufgefordert hat; ab diesem Zeitpunkt bedarf jede Änderung des Antrags und seiner Folgen der Zustimmung der Krankenkasse (BSG, Urteile v. 26.6.2008, B 13 R 37/07 R, und v. 7.12.2004, B 1 KR 06/03 R). Hierzu führt Ziff. 8.2.3 des Gemeinsamen Rundschreibens v. 7.9.2022 (Fundstelle: Rz. 54) Folgendes aus: "Werden Versicherte nach § 51 SGB V zur Antragstellung auf Leistungen zur Teilhabe mit daraus folgenden möglichen Konsequenz eines Rentenantragsverfahrens aufgefordert, so ist dieser in seiner Dispositionsfreiheit eingeschränkt. Dies bedeutet, dass der Versicherte ohne Zustimmung der Krankenkasse nicht mehr eigenständig in das laufende Verfahren eingreifen darf. Die Dispositionsfreiheit der Versicherten wird auch dann eingeschränkt, wenn die Aufforderung bereits ergeht, bevor die Krankenkasse Krankengeld zahlt. Letzteres kann bereits dem Gesetzeswortlaut entnommen werden, der in § 51 Abs. 1 SGB V den Krankengeldbezug der Versicherten nicht als Voraussetzung nennt. Im Gegenteil erlaubt er die Aufforderung bereits dann, wenn die Erwerbsfähigkeit "erheblich gefährdet oder gemindert" ist; dann aber braucht noch nicht einmal Arbeitsunfähigkeit vorzuliegen." (BSG, Urteil v. 26.6.2008, B 13 R 37/07 R).
Rz. 34
Die gesetzliche Formulierung in § 51 "die Krankenkasse kann" signalisiert, dass es sich bei der Aufforderung des Versicherten zur Antragstellung um eine Ermessensentscheidung der Krankenkasse handelt. Die Krankenkasse ist in ihrer Entscheidung über diesen Antrag jedoch nicht völlig frei, sondern hat ihre Entscheidung nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Hintergrund des Ermessens ist gemäß Ziff. 8.2.2. des Gemeinsamen Rundschreibens v. 7.9.2022 (Rz. 54), "dass bei einer solchen Aufforderung nach ständiger Rechtsprechung gilt, dass Versicherte, die aufgrund eines entsprechenden Verlangens einen Reha- oder Renten-Antrag gestellt haben, diesen nur noch mit Zustimmung der Krankenkasse wirksam zurücknehmen oder beschränken können. Im Rahmen der Ermessensprüfung ist daher durch die Krankenkasse abzuklären, ob die Versicherten ein "berechtigtes" Interesse geltend machen können, das die Belange der Krankenkasse überwiegt. Kommt die Krankenkasse zur Auffassung, dass ein berechtigtes Interesse der Versicherten vorliegt, muss sie demnach von einer Aufforderung zur Antragstellung absehen."
Rz. 35
Als berechtigtes Interesse des Versicherten werden im Rahmen der Rechtsprechung allgemein nur solche Gründe anerkannt, die nicht in erster Linie darauf ausgerichtet sind, die der Krankenkasse zustehenden Befugnisse zu schmälern. So stellen z. B. angestrebte Anrechnungszeiten wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit oder Beitragszeiten wegen des Krankengeldanspruchs zwecks höherer Rentenleistungen kein berechtigtes Interesse des Versicherten dar. Hintergrund: Aus dem Bezug des Krankengeldes ergeben sich unmittelbar Vorteile bei der Rentenhöhe, welche nicht dazu führen sollen, dass Krankengeld entgegen dem Zweck des § 51 auch bei gegebenem Rentenanspruch weiter bezogen wird. Ein berechtigtes Interesse des Versicherten liegt dagegen vor, wenn eine "erhebliche" Verbesserung des Rentenanspruches erreicht werden kann, z. B. durch eine evtl. noch mögliche Erfüllung der Voraussetzungen für eine erhebliche Erhöhung der Rentenbemessungsgrundlage (vgl. BSG, Urteil v. 7.12.2004, B 1 KR 6/03 R).
Ein berechtigtes Interesse des Versicherten ist daher jeweils individuell zu prüfen und kann z. B. in folgenden Fällen gegeben sein:
- Rentenantrag würde aufgrund tarifvertraglicher Regelungen automatisch zum Arbeitsplatzverlust führen,
- Anspruch auf Betriebsrente ginge durch frühzeitigen Rentenbeginn verloren,
- qualifizierte Wartezeit nach § 50 Abs. 2 bis 4 SGB VI kann noch erreicht werden,
- Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) kann noch erreicht werden,
- Wunsch nach Ausschöpfung von betrieblichen oder tariflichen Leistungen, z. B. Überbrückungsgeldzahlungen
(vgl. Ziff. 8.2.2. des Gemeinsamen Rundschreibens v. 7.9.2022, Fundstelle Rz. 54).
Rz. 36
Ergänzend hierzu hat das LSG Niedersachsen-Bremen mit Urteil v. 21.11.2017 (L 16 KR 261/16) entschieden, dass das berechtigte Interesse des Versicherten vor allem in Betracht komme, wenn eine erhebliche Verbesserung des Rentenan...