Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Urteil vom 18.02.1992)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 18. Februar 1992 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Streitig ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Verletztengeld wegen einer im März 1986 eingetretenen Arbeitsunfähigkeit, die die Klägerin auf einen Arbeitsunfall vom 3. März 1986 zurückführt.

Die im Jahre 1935 geborene Klägerin ist Inhaberin eines Schreibwarengeschäfts und bei der Beklagten versichert. Sie suchte am 6. März 1986 ihre Hausärztin Dr. K. … auf und gab ihr gegenüber an, sie habe sich vor einigen Tagen beim Besteigen einer Leiter am linken Unterschenkel gestoßen. Die Ärztin stellte eine massive Rötung und Schwellung des linken Unterschenkels mit kleinen blauen Verfärbungen über dem Schienbein fest. Als Zeichen einer Verletzung war ein kleiner blauer Fleck über dem unteren Drittel des Schienbeins zu erkennen. Noch am 6. März 1986 begab sich die Klägerin in stationäre Behandlung. Dort wurde die Diagnose eines Erysipels am linken Unterschenkel gestellt. In der Anamnese heißt es, die Klägerin habe sich vor 5 Tagen beim Hornhautentfernen in den Fuß geschnitten; 6 Stunden später habe sie Schmerzen in der linken Wade verspürt, die sich am folgenden Tag verschlimmert hätten. Vor 3 Tagen seien dann sehr starke Schmerzen, Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen aufgetreten. Seit gestern (bezogen auf den Aufnahmetag) sei der linke Unterschenkel angeschwollen und stark gerötet. Seit 2 Tagen habe die Hausärztin sie mit Penicillin behandelt.

In ihrer Unfallanzeige vom 16. April 1986 gab die Klägerin zum Unfallhergang an, sie habe sich am 3. März 1986 beim Auf- und Absteigen von einer Treppenleiter, die sie beim Reinigen von Regalen in ihrem Schreibwarengeschäft benutzt habe, durch einen Anstoß am linken Unterschenkel verletzt. Dabei sei eine kleine Wunde entstanden, die sich nach 2 Tagen zu einer schweren Entzündung entwickelt habe.

Zu ihren insoweit widersprüchlichen Angaben befragt, erklärte die Klägerin, sie habe sich zwar am 26. Februar 1986 in die Hornhaut geschnitten; dieser kleine Schnitt habe ihr aber keine wesentlichen Beschwerden bereitet. Erst am 5. März 1986 – also 2 Tage nach dem angeschuldigten Unfall in ihrem Schreibwarengeschäft – habe sich ihr Bein entzündet. Daraufhin habe sie ihre Hausärztin aufgesucht. Der Stationsarzt habe sie später genauer untersucht und als Ursache die Verletzung am Bein festgestellt.

Mit Bescheid vom 27. November 1986 lehnte die Beklagte Entschädigungsleistungen ab; es habe sich keine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür finden lassen, daß das Erysipel auf den Anstoß an der Leiter zurückzuführen sei.

Das Sozialgericht hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 26. Juni 1989). Trotz umfangreicher Beweisaufnahme habe nicht geklärt werden können, ob das Erysipel auf den angeschuldigten Unfall zurückzuführen sei. Dagegen sprächen die ersten Angaben der Klägerin bei ihrer stationären Aufnahme. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 18. Februar 1992). Es sei schon fraglich, ob sich die Klägerin am 3. März 1986 eine – zumindest oberflächliche – Hautverletzung im Bereich des linken Unterschenkels zugezogen habe, die als Eintrittpforte für den Infektionserreger in Betracht komme. Eine Beweiserhebung über Art und Umfang dieser angeblichen Verletzung – insbesondere durch Vernehmung der von der Klägerin benannten Zeugin H. … – sei jedoch entbehrlich, weil selbst unter Zugrundelegung der Behauptung der Klägerin, sie habe sich einen Kratzer an der linken Wade zugezogen, ein ursächlicher Zusammenhang mit dem aufgetretenen Erysipel nicht hinreichend wahrscheinlich erscheine. Der Senat messe der Darstellung des Geschehensablaufs, wie sie die behandelnden Ärzte unmittelbar nach der stationären den Angaben der Klägerin entsprechend aufgezeichnet hätten, einen ebenso großen Beweiswert wie den späteren Äußerungen der Klägerin zum Krankheitsverlauf. Meist sei sogar den zuerst dokumentierten Angaben eines Verletzten ein höherer Wahrheitsgehalt zuzusprechen als späteren Darlegungen.

Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Klägerin, das angefochtene Urteil beruhe auf Verfahrensfehlern. Das LSG habe den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) in mehrfacher Hinsicht verletzt. Gerügt werde ferner eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes, § 62 SGG). Die Klägerin meint, das LSG hätte ihren Beweisantrag auf Vernehmung der Zeugen J., A. … und W. … nachkommen müssen. Auch als medizinische Laien hätten diese Zeugen zweifelsfrei bekunden können, daß sie – die Klägerin – am 1. März 1986 die Geburtstagsfeier ihres Sohnes völlig beschwerdefrei ausgerichtet habe. Bei der von den Sachverständigen dargelegten Inkubationszeit von wenigen Stunden bis maximal 2 Tagen hätte eine auf die Schnittverletzung vom 26. Februar 1986 zurückzuführende Manifestation des Erysipels am 28. Februar spätestens am 1. März 1986 mit den begleitenden schwersten Symptomen (ua Fieberanstieg bis zu 40 Grad mit Schüttelfrost) stattfinden müssen. Darüber hinaus hätte das LSG die Zeugin H. … vernehmen müssen. Diese Zeugin hätte bestätigen können, daß die Klägerin am 3. März 1986 ihren Geschäftsbetrieb völlig beschwerdefrei durchgeführt und sich erst am Nachmittag einen Kratzer an der linken Wade zugezogen habe.

Die Klägerin beantragt,

  1. die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten vom 27. November 1986 aufzuheben,
  2. die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß des Arbeitsunfalls vom 3. März 1986 Kranken- und Verletztengeld zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie meint, selbst wenn die von der Klägerin unter Beweis gestellten Tatsachen nach einer Beweisaufnahme zur Überzeugung des Gerichts feststehen sollten, rechtfertige dies keine andere Sachentscheidung. Dies folge insbesondere aus dem im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Prof. Dr. S. ….

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die tatsächlichen Feststellungen in dem Urteil halten den Revisionsrügen der Klägerin nicht stand. Hierbei genügt es, daß nur eine der Rügen der Klägerin durchgreift; auf weitere Rügen, die ebenfalls zur Begründetheit der Revision im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG führen können, braucht dann nicht mehr eingegangen zu werden (vgl zuletzt Urteile des erkennenden Senats vom 4. August 1992 – 2 RU 42/91 – und vom 25. November 1992 – 2 RU 17/92 –). Hier beruht das Urteil auf dem gerügten Verfahrensfehler, daß das LSG unter Verletzung des § 103 SGG entscheidungserhebliche Tatsachen nur unzureichend aufgeklärt hat. Es fehlen ausreichende Tatsachenfeststellungen, um den Rechtsstreit zugunsten des einen oder anderen Beteiligten in der Sache entscheiden zu können.

Die zwischen den Beteiligten umstrittene Gewährung von Verletztengeld setzt nach § 560 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) voraus, daß die Klägerin am 3. März 1986 einen Arbeitsunfall (§ 548 Abs 1 Satz 1 RVO) erlitten hat und infolgedessen arbeitsunfähig im Sinne der Krankenversicherung war und keinen Anspruch auf Übergangsgeld nach den §§ 568, 568a Abs 2 oder 3 RVO hat. Das LSG hat das Vorliegen dieser Voraussetzungen verneint. Den Feststellungen im angefochtenen Urteil ist zu entnehmen, daß beide Verletzungen (Schnittverletzung am linken Fuß am 26. Februar 1986, Schienbeinverletzung links am 3. März 1986) Eintrittspforte für die Infektion sein können, und daß es deshalb für die Frage, welches der beiden Ereignisse das Erysipel verursacht hat, entscheidend auf den Geschehensablauf ankommt. Dabei schreibt das LSG der Darstellung der Klägerin und ihren Angaben hierzu entscheidende Bedeutung zu. Das LSG mißt der zeitlich früher abgegebenen Darstellung der Klägerin gegenüber den sie behandelnden Ärzten unmittelbar nach der stationären Aufnahme einen zumindest ebenso großen Beweiswert zu wie ihren späteren Äußerungen zum Verlauf der Krankheit. Den Ausführungen des LSG läßt sich ferner entnehmen, daß es bei seiner Beweiswürdigung den Angaben der Klägerin über den Zeitpunkt des Beginns ihrer Beschwerden mit sehr starken Schmerzen, Fieber, Schüttelfrost und Kopfschmerzen entscheidende Bedeutung beimißt: Ob nämlich ihren Erstangaben zufolge bereits 6 Stunden nach dem Schnitt in den Fuß am 26. Februar 1986 die Beschwerden begonnen und sich in der Folgezeit verstärkt hätten, oder ob sie eine Schwellung des linken Beines erst am Nachmittag des 3. März 1986 nach dem Stoß an der Leiter bemerkt habe.

Bei dieser Sachlage hätte das LSG – auch von seinem Rechtsstandpunkt aus -sich veranlaßt sehen müssen, weitere Beweise zu erheben, bevor es die Grundsätze der objektiven Beweislast anwendet. Die Frage der Beweislastverteilung stellt sich erst dann, wenn es nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht gelungen ist, die bestehende Ungewissheit über eine unter den Beteiligten streitige Tatsache zu beseitigen (BSGE 19, 52, 53; 27, 40, 42; 30, 121, 123; BSG SozR 1500 § 128 Nr 18). Das LSG hätte auch im Hinblick auf die Ausführungen von Prof. Dr. W. … und Dr. B. … in ihrem Gutachten vom 16. Dezember 1991 (s ua Seite 20) nicht nur die Zeugin H. … … über die Ereignisse am 3. März 1986, sondern auch die Zeugen J., A. – … und W. über ihre Wahrnehmungen anläßlich der Geburtstagsfeier am 1. März 1986 anhören müssen. Hierbei handelt es sich nicht um die Vernehmung medizinischer Laien über medizinische Befunde, sondern um die Schilderung von Vorgängen des täglichen Lebens (Klagen über Beschwerden, Art der verrichteten Arbeiten während einer längeren Zeit ohne Angaben oder Zeichen von Beschwerden), aus denen erst der Sachverständige seine Schlußfolgerungen ziehen soll. Dies gilt hier um so mehr, als den eingeholten Gutachten der Sachverständigen zu entnehmen ist, es sei „eine Frage der Glaubwürdigkeit der Angaben der Klägerin, um das eine oder andere als Ursache anzunehmen” (Gutachten von Dr. G. … vom 26. August 1986). Auch die Beklagte selbst hielt es in ihrem Schriftsatz vom 15. Januar 1992 vor der der Entscheidung des LSG vorangegangenen mündlichen Verhandlung vom 18. Februar 1992 „nach dem jetzigen Stand der Ermittlungen für erforderlich, den tatsächlichen Sachverhalt durch entsprechende Zeugenvernehmung festzustellen.”

Die Sache war allein schon aus diesen Gründen unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an die Vorinstanz zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Bei seiner erneuten Prüfung wird das LSG auch die Anhörung des seinerzeit behandelnden Stationsarztes Dr. K. … zu erwägen haben. Wenn außerdem das LSG nach seiner Rechtsauffassung den Erstangaben der Klägerin eine entscheidende Bedeutung beimißt, so wird es auch den Umstand beachten müssen, daß die Klägerin, als sie sich erstmals am 6. März 1986 zu ihrer Hausärztin Dr. K. … in ärztliche Behandlung begab, als Verletzung nur den Stoß an der Leiter angab (s Seite 2 des angefochtenen Urteils).

Das LSG hat auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173556

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