Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 26.01.1990; Aktenzeichen L 4 Kr 61/88)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 26. Januar 1990 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der 1928 geborene Kläger bezieht wegen verschiedener 1945 erlittener Kriegsdienstschäden, ua wegen Hirnverletzungsfolgen, eine Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 vH (Abhilfebescheid vom 30. November 1978). Nachdem er aufgrund seines Kriegsleidens wegen Dienstunfähigkeit als Sonderschulkonrektor (Besoldungsgruppe A 14 Bundesbesoldungsgesetz ≪BBesG≫) vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden war, wurde die MdE wegen besonderen beruflichen Betroffenseins mit 90 vH bewertet (Bescheid vom 17. März 1986) und wurde ihm ein Berufsschadensausgleich entsprechend einem Vergleichseinkommen der Besoldungsgruppe A 15 BBesG gewährt, weil er ohne die Schädigungsfolgen wahrscheinlich Hochschullehrer für Bildende Kunst geworden wäre (Bescheid vom 18. März 1986). Aufgrund erneuter Prüfung der Sache nahm das Versorgungsamt den Bescheid über den Berufsschadensausgleich nach § 45 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) als unrichtig insoweit zurück, als das Vergleichseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 15 BBesG statt nach A 14 BBesG – entsprechend der zuletzt erreichten Berufsstellung – bemessen worden war (Bescheid vom 15. März 1988, Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1988). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 26. Januar 1989). Es hat die Einstufung des Vergleichseinkommens in die Besoldungsgruppe A 15 BBesG als rechtmäßig beurteilt. Ohne die Schädigung vor oder nach Abschluß der Ausbildung (Mittelschulabschluß 1944) hätte der Kläger wahrscheinlich nach seinen Fähigkeiten ein Hochschulstudium beendet. In seinem Beruf als Sonderschullehrer wäre er wahrscheinlich ohne die Schädigung in eine Rektorenstelle an einer größeren Schule mit der Besoldungsgruppe A 15 BBesG aufgestiegen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 26. Januar 1990). Über eine Unrichtigkeit des berichtigten Bescheides hat es nicht abschließend entschieden. Die Rücknahme der Einstufung mit der Besoldungsgruppe A 15 BBesG hat es deshalb als rechtswidrig beurteilt, weil der Beklagte die erforderliche Ermessensabwägung nicht ausreichend vorgenommen habe und weil diese nach Ablauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X nicht mehr nachgeholt werden könne.

Der Beklagte rügt mit der – vom LSG zugelassenen – Revision eine Verletzung des § 45 Abs 1, 2 und 4 Satz 2 SGB X. Der Kläger sei zu Unrecht nach der Besoldungsgruppe A 15 BBesG eingestuft worden. Für den Beginn der Ein-Jahres-Frist zur Rücknahme sei nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) noch offen, welche Tatsachen- und Rechtskenntnis maßgeblich sei. Auch sei in der Rechtsprechung nicht ausreichend geklärt, in welchem Umfang individuelle Gesichtspunkte bei der Ermessensausübung berücksichtigt werden müßten. Dem Kläger hätte klar sein müssen, daß seine Einstufung entsprechend einer Hochschulausbildung unrichtig sei, und deshalb könne er sich nicht auf schutzwürdiges Vertrauen berufen.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG zu ändern und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat im Ergebnis mit Recht die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Der auf § 45 SGB X (vom 18. August 1980 – BGBl I 1469 –) gestützte Rücknahmebescheid ist rechtswidrig, wie das SG zutreffend entschieden hat.

Auf die von der Revision angegriffenen Ausführungen des LSG zu einer Ermessensausübung bei der Rücknahme von Verwaltungsakten nach § 45 SGB X ist nicht einzugehen. Schon die erste Voraussetzung des § 45 Abs 1 SGB X ist nicht gegeben; der zurückgenommene Verwaltungsakt war nicht rechtswidrig, soweit in ihm der Berufsschadensausgleich nach einem Vergleichseinkommen gemäß der Besoldungsgruppe A 15 BBesG statt gemäß A 14 BBesG bemessen wurde. Die Sache ist insoweit spruchreif für eine abschließende Revisionsentscheidung, ohne daß sie zur weiteren Sachaufklärung an das LSG zurückverwiesen werden müßte. Für das Berufungsgericht kam es allerdings nicht darauf an, ob der Kläger ohne die Schädigung wahrscheinlich Hochschullehrer geworden wäre. Gleichwohl enthält das Berufungsurteil genügend Tatsachenfeststellungen für die Sachentscheidung des Revisionsgerichts.

In sachlich-rechtlicher Hinsicht ist von der Auslegung des § 45 Abs 1 SGB X auszugehen, die der Senat im Urteil vom 27. Oktober 1989 (SozR 1300 § 45 Nr 49) vertreten hat und an der er festhält. Demnach ist ein Verwaltungsakt, der auf einen für wahrscheinlich gehaltenen Sachverhalt gestützt wurde, nicht schon dann rechtswidrig, wenn bei erneuter Beurteilung dieser Sachverhalt nicht wahrscheinlich ist; er müßte vielmehr als unmöglich zu beurteilen sein.

Die der rechtsverbindlichen Einstufung zugrundeliegende Feststellung, der Kläger hätte ohne die Kriegsverletzung wahrscheinlich eine Berufsstellung der Besoldungsgruppe A 15 BBesG erreicht, ist nicht unmöglich.

Da der Kläger tatsächlich trotz schwerer Schädigungsfolgen die Besoldungsgruppe A 14 BBesG erreicht hat, kann ihm für die ohne die Schädigung anzunehmende Zugehörigkeit zum höheren Dienst nicht die Besoldungsgruppe A 15 BBesG als Maßstab für das Vergleichseinkommen nach dem 47. Lebensjahr aberkannt werden (§ 4 Abs 1 Berufsschadensausgleichsverordnung).

Das SG hat außerdem bei der nachträglichen hypothetischen Bewertung der erwiesenen Fähigkeiten des Klägers und seines Leistungsstrebens angenommen, das Bestehen der Reifeprüfung und der Abschluß einer Hochschulbildung mit dem Zugang zu einem Beruf mit dem Vergleichseinkommen der Besoldungsgruppe A 15 BBesG sei sogar wahrscheinlich, falls der Kläger nicht während seines unterbrochenen Bildungsganges hirngeschädigt worden wäre. Zu dem tatsächlich erreichten Beruf des Sonderschullehrers hat das SG ebenfalls sogar als wahrscheinlich angesehen, daß er ohne die Schädigung in eine Rektorenstelle an einer großen Sonderschule mit der Besoldungsgruppe A 15 BBesG aufgerückt wäre und daß er mit der Besoldungsgruppe A 14 BBesG schädigungsbedingt ausgeschieden sei. Nach § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind allerdings nur Feststellungen im Berufungsurteil für das Revisionsgericht verbindlich. Ungeachtet dessen können für ein Revisionsurteil tatsächliche Feststellungen des Urteils der ersten Instanz verwertet werden, falls sie vom Berufungsgericht bestätigt worden sind. Das war hier für die Annahme der Wahrscheinlichkeit nicht der Fall, weil das LSG seine Entscheidung auf eine andere Begründung gestützt hat.

Indes hat es selbst aufgrund eigener Beweiswürdigung immerhin ausdrücklich als „nicht zweifelsfrei” beurteilt, „ob der begünstigende Verwaltungsakt rechtswidrig war”. Das genügt für eine abschließende Sachentscheidung, weil es nicht darauf ankommt, ob bei einer erneuten Prüfung der zuvor angenommene Berufsweg nicht mehr als wahrscheinlich angesehen wird. Das LSG hat es bloß als fraglich angesehen, ob der Kläger, wie er zu seinem Antrag auf Berufsschadensausgleich angegeben hatte, ohne die Schädigung die Reifeprüfung abgelegt und ein Hochschulstudium für Bildende Kunst beendet hätte oder ob er mindestens nach dem Besuch einer Werkkunstschule Fachlehrer im höheren Dienst geworden wäre. Demnach hat das Berufungsgericht auf zwei verschiedenen Wegen ohne die Schädigung einen Aufstieg in eine Berufsstellung als Lehrer in der höheren Laufbahn, für die die Besoldungsgruppe A 15 BBesG maßgebend wäre (§ 4 Abs 1, § 7 BSchAV), für möglich gehalten. Diese tatsächliche Feststellung reicht aus, um die Einstufung des Vergleichseinkommens als nicht rechtswidrig iS des § 45 Abs 1 SGB X zu beurteilen.

Derartige tatsächliche Feststellungen können, auch wenn sie nicht zur tragenden Begründung eines Berufungsurteils gehören, im Revisionsurteil verwertet werden (BSG SozR 1500 § 170 Nr 4; USK 74169; Bundesverwaltungsgericht Buchholz 310 § 144 VwGO Nr 40; RGZ 166, 263, 267f).

Der Beklagte hat die Feststellung, der zuvor angenommene hypothetische Berufsweg sei jedenfalls möglich, nicht mit Verfahrensrügen formgerecht nach § 164 Abs 2 Satz 3 SGG angegriffen. Er behauptet lediglich, im Hinblick auf die besonderen Nachkriegsverhältnisse wäre praktisch ein solcher Berufsweg unmöglich gewesen. Gerade die besonderen Nachkriegsverhältnisse hat aber auch das LSG berücksichtigt und hat angenommen, diese Umstände sprächen dafür, daß der Kläger auch ohne die Schädigung anfangs in Mecklenburg geblieben und dort Grundschullehrer geworden wäre und nach seiner Übersiedlung in den Westen den Lehrerberuf nicht aufgegeben hätte. Dies hat jedoch das LSG nicht für so gesichert gehalten, daß es deshalb einen Aufstieg in den höheren Dienst als unmöglich beurteilt hätte. Außerdem bleibt von der entgegenstehenden Beweiswürdigung des Beklagten die Feststellung des SG unberührt, der Kläger sei wahrscheinlich wegen seiner Schädigungsfolgen nicht zum Sonderschulrektor an einer großen Schule mit der Besoldungsgruppe A 15 BBesG aufgestiegen, was das LSG nicht anders gewürdigt hat. Selbst wenn diese Feststellung nicht eine Grundlage des Revisionsurteils bilden könnte, änderte das nichts am Ergebnis.

Denn nach dem eigenen Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren ist eine andere tatsächliche Voraussetzung für die rechtsverbindliche Einstufung in die Besoldungsgruppe A 15 BBesG nicht unmöglich. Der Beklagte hat sich selbst auf die von ihm vorgelegte Auskunft des Niedersächsischen Ministers für Kunst und Wissenschaft vom 31. Mai 1989 bezogen, nach der in Niedersachsen Absolventen einer Werkkunstschule, also ohne den Nachweis eines Hochschulstudiums sogar Hochschullehrer werden konnten. Diese allgemeine Erfahrung entzieht dem angefochtenen Bescheid die Entscheidungsgrundlage. Der Inhalt dieser Auskunft, die der Beklagte selbst in den Rechtsstreit eingeführt hat, kann ebenso wie eine unstreitige Tatsache (vgl BSG SozR 3100 § 30 Nr 13) dem Revisionsurteil zugrunde gelegt werden. Abgesehen davon hat es das LSG aufgrund eigener Beweiswürdigung unter Verwertung der bezeichneten Auskunft für fraglich erklärt, ob der Kläger nach dem Krieg Fachlehrer im höheren Dienst geworden wäre, also für möglich gehalten. Diese Feststellung genügt aber, wie schon dargelegt, für die Aufhebung des angefochtenen Rücknahmeaktes.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1175112

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