Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I.

Die Klägerin beansprucht Witwenbeihilfe weh § 600 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Ihr Ehemann, der 1972 an einer nicht unfallbedingten Krankheit verstorben ist, hatte bis zu seinem Tode eine Unfallrente in Höhe von 40 v.H. der Vollrente bezogen; wegen einer anderen Unfallrente in Höhe von 33? v.H. der Vollrente war er 1959 abgefunden worden. Die Beklagte hat die Gewährung der Witwenbeihilfe abgelehnt, weil die Klägerin nicht - wie § 600 Abs. 1 RVO erfordere - Witwe eines "Schwerverletzten" sei; Schwerverletzter sei auch der gesetzlichen Begriffsbestimmung in § 583 RVO nur ein Verletzter, der eine oder mehrere Renten von (zusammen) mindestens 50 v.H. der Vollrente beziehe, der Ehemann der Klägerin habe aber bei seinem Tode lediglich eine Rente von 40 v.H. der Vollrente bezogen (Bescheid vom 11. Juni 1974).

Das Sozialgericht (SG) - unter Zulassung der Berufung und das Landessozialgericht (LSG) haben die Klage für begründet gehalten (Urteile vom 18. September 1974 und 4. Dezember 1975). Das LSG hat u.a. ausgeführt, in § 583 Abs. 1 RVO habe der Gesetzgeber deshalb auf den tatsächlichen Bezug einer Rente abgestellt, weil in der Vorschrift die Gewährung einer Kinderzulage geregelt werde; eine solche "akzessorische" Zusatzleistung könne aber anders als die einmalige Witwenbeihilfe - "Iogischerweise nur dann gewährt werden, wenn tatsächlich auch eine Rente bezogen wird". Im übrigen habe, schon das ehemalige Reichsversicherungsamt in der Abfindung einer Rente nur eine besondere Form des Rentenbezugs gesehen.

Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Sie hält die Auffassung des LSG nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht für zutreffend; es sei auch nicht auszuschließen, daß der Gesetzgeber bei Erlaß des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) eine Berücksichtigung von abgefundenen Renten bei der Prüfung der Schwerverletzteneigenschaft für unpraktisch, möglicherweise sogar für undurchführbar gehalten habe, zumal wenn der Tod des Verletzten lange Zeit - hier über 12 Jahre - nach der Rentenabfindung eintrete.

Die Beklagte beantragtedas Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Dezember 1975 und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 18. September 1974 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 11. Juni 1974 abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Ihrer Ansicht nach ist für den Begriff des Schwerverletzten im Sinne des § 600 RVO - anders als bei § 583 Abs. 1 RVO - allein auf die Minderung der Erwerbsfähigkeit und nicht auf den tatsächlichen Rentenbezug abzustellen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Wie das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden hat, steht der Klägerin ein Anspruch auf Witwenbeihilfe zu.

Nach § 600 Abs. 1 RVO erhält Witwenbeihilfe "die Witwe eines Schwerverletzten (§ 583 Abs. 1)" die keinen Anspruch auf Witwenrente hat, weil der Tod ihres Ehemannes nicht Folge eines Arbeitsunfalles war. Schwerverletzter im Sinne des § 583 Abs. 1 RVO ist ein Verletzter, solange er eine Rente von 50, oder mehr von Hundert der Vollrente oder mehrere Verletztenrenten aus, der Unfallversicherung bezieht, deren Hundertsätze zusammen die Zahl 50 erreichen. Die Gewährung einer Witwenbeihilfe setzt mithin voraus, daß der Verstorbene zur Zeit seines Todes (vgl. § 600 Abs. 2 Satz 1 RVO) eine oder mehrere Rente(n) von (zusammen) mindestens 50 v.H. der Vollrente bezogen hat. Diese Voraussetzungen haben im Falle des Ehemanns der Klägerin vorgelegen.

Dem verstorbenen Ehemann der Klägerin ist zwar zur Zeit seines Todes (1972) nur eine Rente von 40 v.H. der Vollrente ausgezahlt worden, wegen einer weiteren Rente von 33 1/3 v.H. der Vollrente war er 1959 abgefunden worden. Auch diese abgefundene Rente gehört jedoch zu den vom Verletzten "bezogenen" Renten.

Daß auch eine solche Rente bei der Prüfung des Anspruchs auf Kinderzulage (früher § 559b RVO, jetzt § 583 RVO) mitzuberücksichtigen ist, hat schon das ehemalige Reichsversicherungsamt entschieden (GE. 4137, AN 1931 S. IV 323). Es hat dies vor allem damit begründet, daß die Abfindung einer Rente nur eine besondere, hinsichtlich der Art der Auszahlung der Entschädigung abweichende Form des Rentenbezugs darstelle (a.a.O. rechte Spalte oben). Dabei hat das Reichsversicherungsamt nicht danach unterschieden, ob die Rentenabfindung nur einen Teil der Rente oder - bei Bezug mehrerer Renten - eine von ihnen in voller Höhe betraf (GE 4751, AN 1934 S. IV 141 rechte Spalte). Das Schrifttum ist dieser Rechtsprechung gefolgt (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand: November 1957, S. 580c; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Stand: Oktober 1975, § 583 Anm. 2; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Auf., Kennzahl 550). Streitig geblieben ist bisher nur die - vom Reichsversicherungsamt in der zuletzt genannten Entscheidung verneinte - Frage, ob der abgefundene Rententeil bzw. die abgefundene Rente auch bei Berechnung der Höhe der Kinderzulage mitzuberücksichtigen ist (vgl. dazu Brackmann a.a.O., S. 580g). Daß eine Kinderzulage dem Grunde auch nicht deswegen versagt werden kann, weil der Verletzte nur zusammen mit einem abgefundenen Rententeil: oder einer abgefundenen Rente mindestens 50 v.H. der Vollrente bezieht, ist bisher nicht bezweifelt worden. Auch der erkennende Senat sieht keinen Anlaß, diese Auffassung in Frage zu stellen. Überzeugend erscheint dabei vor allem der Hinweis des Reichsversicherungsamtes, daß die Abfindung einer Rente lediglich eine besondere Form des Rentenbezugs - Auszahlung der Rente in einem "Einmalbetrag" statt Gewährung laufender Leistungen - darstellt, was in dem neuen Abfindungsregelung des § 609 Abs. 2 RVO (Berechnung der Abfindungssumme nach dem Neunfachen des abgefundenen Rentenbetrages) besonders deutlich zum Ausdruck kommt.

Was hiernach, für die Auslegung des Begriffs "Schwerverletzter" in § 583 Abs. 1 RVO gilt, trifft auch für § 600 Abs. 1 RVO zu, der in einem Klammerzusatz auf § 583 Abs. 1 verweist. Dabei kann dahinstehen, ob der Schwerverletztenbegriff in § 600 Abs. 1 RVO nicht selbst dann in einem weiteren, auch abgefundene Renten (Rententeile) umfassenden Sinne verstanden werden müßte, wenn der Begriff, wie das LSG irrtümlich angenommen hat, in § 583 Abs. 1 RVO enger auszulegen wäre. Daß die dort geregelte Kinderzulage - trotz ihrer "Akzessorietät" im Verhältnis zur Rente - nicht nur neben einer tatsächlich bezogenen Rente, sondern - bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen - auch neben einer abgefundenen zu gewähren ist, ist bereits ausgeführt worden. Zu einer unterschiedlichen Auslegung des Schwerverletztenbegriffs in den genannten beiden Vorschriften besteht deshalb kein Anlaß. Auch nach § 600 Abs. 1 RVO ist somit Schwerverletzter, wer zur Zeit seines Todes Rente von mindestens 50 v.H. der Vollrente bezogen hat, wobei eine abgefundene Rente (Rententeil) mitzuberücksichtigen ist, Da dies beim Ehemann der Klägerin der Fall war, steht der Klägerin ein Anspruch auf Witwenbeihilfe zu.

Die hiergegen erhobenen Einwände der Beklagten sind unbegründet. Der Gesetzgeber hat allerdings bei der Umschreibung des Schwerverletztenbegriffs den Fall, daß eine vom Verletzten bezogene Rente (Rententeil) abgefunden worden ist, nicht ausdrücklich erwähnt (anders z.B. in § 584 Abs. 2 RVO). Daß dies indessen deswegen geschehen sein könne, weil der Gesetzgeber die Berücksichtigung einer abgefundenen Rente insoweit für "unpraktisch, vielleicht sogar für im berufsgenossenschaftlichen Verwaltungsalltag gar nicht durchführbar" gehalten habe, ist nicht anzunehmen. Es trifft insbesondere nicht zu, daß der Versicherungsträger nach Abfindung einer Rente, wenn später Witwenbeihilfe beantragt werde, prüfen müsse, ob die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Verletzten im Zeitpunkt seines Todes auch mindestens 50 v.H. betragen habe. In welchem Grade die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten tatsächlich gemindert ist oder im Todeszeitpunkt gemindert war, hat für die Gewährung weder der Kinderzulage noch der Witwenbeihilfe rechtliche Bedeutung. Entscheidend ist insoweit allein, ob der Verletzte eine Rente nach einer bestimmten MdE bezieht oder bezogen hat (vgl. das oben genannte Schrifttum). Das gilt auch, soweit die Rente abgefunden ist. Auch in diesem Fall ist deshalb maßgebend, ob seinerzeit eine Rente nach einem bestimmten MdE-Satz abgefunden worden ist; ob die MdE damals tatsächlich vorgelegen und ob sie sich während des Abfindungszeitraums - wider Erwarten - verändert hat, ist dagegen grundsätzlich nicht zu prüfen, es sei denn, daß die Folgen des Arbeitsunfalls sich nachträglich wesentlich verschlimmern (vgl. § 605 RVO) - Ob darüber hinaus eine Veränderung der MdE nach Abfindung der Rente für die Anwendung des § 600 RVO auch dann zu berücksichtigen ist, wenn vor dem Tode des Verletzten eindeutig festgestellt worden ist, daß die Unfallfolgen sich gebessert haben oder ganz abgeklungen sind, kann unentschieden bleiben, da ein solcher Sachverhalt hier nicht vorliegt.

Nach § 600 Abs. 2 Satz 1 RVO ist die Witwenbeihilfe, wenn der Verstorbene zur Zeit seines Todes mehrere Verletztenrenten aus der Unfallversicherung "bezogen" hat, von demjenigen Träger der Unfallversicherung zu zahlen, der die Rente auch dem höchsten Jahresarbeitsverdienst gewährt hat. Die Beklagte hat ihre Zahlungspflicht bisher nicht deswegen bestritten, weil an ihrer Stelle ein anderer -Versicherungsträger zahlungspflichtig sei. Da auch sonst keine Anhaltspunkte dafür bestehen, daß bei Bejahung des Anspruchs auf Witwenbeihilfe ein Versicherungsträger als die Beklagte als Schuldner in Betracht kommt, braucht dieser Frage nicht weiter nachgegangen zu werden. Der Senat hat deshalb die Revision der Beklagten gegen das angefochtene Urteil als im Ergebnis unbegründet zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 107

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