Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 04.11.1976; Aktenzeichen L 9/Al 38/76)

SG Würzburg (Urteil vom 23.10.1975)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. November 1976 und des Sozialgerichts Würzburg vom 23. Oktober 1975 aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Firma Adam H. Söhne in Aschaffenburg (Arbeitgeberin), ein Straßen-, Hoch- und Tiefbauunternehmen, beschäftigte 144 Arbeitnehmer. Am 27. September 1973 stellte die Firma die Zahlung der Löhne und Gehälter an ihre Mitarbeiter ein und beantragte am 15. Oktober 1973 die Eröffnung des Vergleichsverfahrens. Sie beantragte mit Schreiben vom 26. Oktober 1973 beim Arbeitsamt (AA) Aschaffenburg die Genehmigung zur Entlassung „von 170” Arbeitnehmern vorsorglich für den Fall, daß das Vergleichsverfahren scheitere, ferner die Verkürzung der Sperrfrist gemäß § 18 Abs. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) idF vom 25. August 1969 (BGBl I 1317).

Durch Beschluß vom 2. November 1973 wurde der Konkurs über das Vermögen der Arbeitgeberin eröffnet und der Kläger zum Konkursverwalter bestellt. Dieser kündigte am 6. November 1973 die Arbeitsverhältnisse aller Arbeitnehmer unter Einhaltung der ordentlichen Kündigungsfrist, nämlich ua 98 Arbeitnehmern zum 14. November 1973 und 19 Arbeitnehmern zum 21. November 1973. und beantragte die Zustimmung des Landesarbeitsamts „zur Entlassung rückwirkend mit dem Tag der Antragstellung”. Am 7. November 1973 scheiterten die Verhandlungen mit einer Auffanggesellschaft. Daraufhin verließ ein Großteil der Arbeitnehmer den Arbeitsplatz; 40 von ihnen hatten sich bereits vorher einen anderen Arbeitsplatz gesucht. Es kam trotz vorhandener Aufträge zur Einstellung des Betriebes, da die Kreditinstitute keine Darlehen mehr zur Befriedigung der Lohnansprüche gewähren wollten.

In der Sitzung vom 16. November 1973 lehnte der beim Landesarbeitsamt Nordbayern gebildete Ausschuß für Kündigungsschutz bei anzeigepflichtigen Entlassungen (Ausschuß) den Antrag auf Verkürzung der Sperrfrist ab. Er gab diese Entscheidung dem Kläger mit Bescheid vom 27. November 1973 bekannt und führte zur Begründung aus: Die Liquiditätsschwierigkeiten seien nicht überraschend auf getreten. Vielmehr hätten die Bürgschaften des Unternehmers für zwei andere Betriebe und deren finanzielle Entwicklung sowie die anwachsenden Bank- und Steuerschulden und die damit zusammenhängenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten im eigenen Unternehmen Anlaß für eine rechtzeitige Anzeige nach § 17 KSchG sein müssen. Durch die Einhaltung der Sperrfrist würden die rückständigen Lohnansprüche der Arbeitnehmer nicht gefährdet, den Arbeitnehmern müsse vielmehr der Lohnanspruch für die gesamte Dauer der Sperrfrist erhalten bleiben. Bei der Interessenabwägung, die unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage sowohl für den Arbeitgeber als auch für die Arbeitnehmer sehr ausführlich in aller Tragweite gewürdigt worden sei, habe sich der Ausschuß nicht in der Lage gesehen, von der Kannbestimmung, die Sperrfrist zu verkürzen, Gebrauch zu machen. Der dagegen eingelegte Widerspruch war erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 1974).

Das Sozialgericht (SG) Würzburg hat mit Urteil vom 23. Oktober 1975 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, auf den Antrag vom 26. Oktober 1973 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts einen neuen Bescheid zu erlassen. Die Berufung der Beklagten hat das Bayerische Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 4. November 1976 zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt: Die Entscheidung des Ausschusses beruhe auf einem fehlerhaften Gebrauch des Ermessens. Die §§ 17 ff KSchG verfolgten ausschließlich arbeitseinsatz- und arbeitsmarktpolitische Ziele. Durch die Sperrfrist nach §§ 17, 18 KSchG solle Zeit gewonnen werden, entweder die Entlassungen – etwa durch Herabsetzung der Arbeitszeit, Änderung der sonstigen Arbeitsbedingungen oder Umsetzung innerhalb des Betriebes – überhaupt zu vermeiden oder aber – falls sich die Entlassungen dennoch als unvermeidbar erwiesen – die anderweitige Unterbringung zu entlassender Arbeitnehmer innerhalb der Sperrfrist zu ermöglichen. Der Ausschuß dürfe deshalb nur dann die Zustimmung zur fristgerechten Kündigung verweigern oder gar die Verlängerung der Sperrfrist auf einen Zeitraum bis zu zwei Monaten anordnen, wenn gleichzeitig konstruktive Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit vom Arbeitgeber, von der Bundesanstalt für Arbeit (BA) oder von anderen Stellen möglich seien und unternommen würden. In den angefochtenen Bescheiden habe der Ausschuß dazu nichts dargelegt.

Die Hinausschiebung des Entlassungszeitpunktes über den Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist sei grundsätzlich dann nicht durch den Zweck der Rechtsnorm gedeckt, wenn die Verlängerung des Arbeitsverhältnisses keinen Einfluß mehr auf die Arbeitslosigkeit haben könne. Dies werde in der Regel der Fall sein, wenn der finanzielle Zusammenbruch eines Unternehmens tatsächlich zur Einstellung der Produktion und zur Abwanderung der Arbeitnehmer geführt habe. Dann bestehe ein vordringliches Interesse daran, die bereits arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer möglichst schnell anderweitig unterzubringen. Da im vorliegenden Fall die bereits eingetretene Arbeitslosigkeit der Arbeitnehmer durch die Anordnung einer Sperrfrist nicht mehr vermieden oder hinausgeschoben werden konnte, hätte der Ausschuß unter Berücksichtigung des Normzweckes der §§ 17 ff KSchG nur eine Entscheidung treffen dürfen, die die Entlassung der Arbeitnehmer mit dem Ablauf der Kündigungsfrist zulasse.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 18 Abs. 1 und 20 Abs. 3 KSchG und führt aus, das LSG weiche mit seiner Entscheidung von der Rechtsprechung anderer Landessozialgerichte ab, an deren Grundsätzen aber festzuhalten sei. Danach werde die Zustimmung zur Entlassung vor Ablauf der Sperrfrist auch im Falle des Konkurses nur ausnahmsweise erteilt, wenn die betriebliche Situation plötzlich und unvorhersehbar eingetreten sei. Eine Verkürzung der Sperrfrist komme nach der bisherigen Rechtsprechung nur bei einem Überwiegen des Arbeitgeberinteresses in Betracht, und dieses Interesse könne nur dann überwiegen, wenn dem Arbeitgeber nicht zuzumuten gewesen sei, durch rechtzeitige Anzeige die Auswirkungen der Entlassungssperre zu vermeiden oder doch so gering wie möglich zu halten. Auch sei von der Rechtsprechung anerkannt, daß das Interesse der BA als ein öffentliches Interesse im Sinne des § 20 Abs. 3 KSchG in Konkursfällen bei der Abwägung zu berücksichtigen sei.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 4. November 1976 und das Urteil des SG Würzburg vom 23. Oktober 1975 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen und der Beklagten die Kosten des Revisionsverfahrens aufzuerlegen.

Er weist darauf hin, daß es wegen der Versuche, den Betrieb aufrechtzuerhalten bzw zu verkaufen, unverantwortlich gewesen wäre, die Anzeige eher zu erstatten, weil sonst die Belegschaft davon erfahren hätte und die besseren Arbeitnehmer die Firma verlassen hatten.

Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist gemäß § 160 Abs. 1 SGG zulässig und form- und fristgerecht eingelegt; sie ist auch begründet.

Für die gerichtliche Überprüfung der Entscheidung des Ausschusses nach § 18 KSchG sind nach § 51 SGG die Sozialgerichte und nicht die Arbeitsgerichte zuständig (vgl. BSGE 9, 1). Der Kläger begehrt die Aufhebung der Entscheidung des Ausschusses nach § 18 Abs. 1 KSchG. Die angefochtene Entscheidung ist ein Verwaltungsakt. Nach § 18 Abs. 1 KSchG werden Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige beim AA nur mit Zustimmung des Landesarbeitsamts wirksam. Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit in Angelegenheiten der übrigen Aufgaben der BA, nämlich um einen Verwaltungsakt, mit dem ein Träger öffentlicher Gewalt verbindlich die Wirksamkeit der Massenentlassung regelt.

Der Kläger ist als Konkursverwalter prozeßführungsbefugt (vgl. Stein-Jonas, Komm. z. Zivilprozeßordnung Bem. 3 a vor § 50). Zwar ist nach dem KSchG der Arbeitgeber verpflichtet, die Anzeige nach § 17 zu erstatten, was demnach auch für den Antrag auf Zustimmung des Landesarbeitsamts nach § 18 Abs. 1 KSchG gilt, doch ist mit der Eröffnung des Konkursverfahrens nach § 6 Abs. 1 der Konkursordnung (KO) vom 10. Februar 1877 idF des Gesetzes vom 21. Juni 1972 (BGBl I, 966) das Verwaltungs- und Verfügungsrecht auf den Konkursverwalter übergegangen. Es berechtigt ihn zu allen Maßnahmen, die dem Zweck der größtmöglichen und gleichmäßigen Befriedigung der Gläubiger dienen (Böhle-Stamschräder, Konkursordnung, Komm., 10. Aufl, Bem. 7 zu § 6).

Nach § 20 Abs. 1 KSchG trifft die Entscheidung des Landesarbeitsamts nach § 18 Abs. 1 KSchG ein Ausschuß, der sich aus dem Präsidenten des Landesarbeitsamts oder einem von ihm beauftragten Angehörigen des Landesarbeitsamts als Vorsitzendem und je 2 Vertretern der Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der öffentlichen Körperschaften zusammensetzt, die von dem Verwaltungsausschuß des Landesarbeitsamts benannt werden.

Bei der Klage auf Aufhebung der Entscheidung des Ausschusses ist die BA die richtige Beklagte. Der Ausschuß ist nicht fähig, am Verfahren beteiligt zu sein (§ 70 SGG). Behörden kann diese Fähigkeit nur durch Landesrecht zugesprochen werden (§ 70 Nr. 3 SGG). Es ist schon zweifelhaft, ob dies auch für Behörden der bundesunmittelbaren Anstalten des öffentlichen Rechts gilt. Jedenfalls ist aber in Bayern nur die Vertretung des Freistaats Bayern vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit geregelt (Verordnung über die gerichtliche Vertretung des Freistaats Bayern und über das Abhilfeverfahren idF der Bekanntmachung vom 9. Februar 1973 – Bayer. GVBl S. 89; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, S. 234 g). Wie vom Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden, ist in derartigen Fällen die Klage auf Aufhebung eines Verwaltungsaktes gegen den Träger der Verwaltung zu richten, der der Verwaltungsakt zuzurechnen ist (vgl. BSGE 11, 15; 9, 3; 7, 237). Die Entscheidungen des Ausschusses werden der BA als Träger der Verwaltung zugerechnet (vgl. BSGE 11, 15).

Die Berufung gegen das Urteil des SG ist nach § 144 Abs. 1 SGG zulässig, wie auch das LSG zutreffend erkannt hat. Zwar geht es nur um die einmalige Zustimmung zur Massenentlassung, und nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG ist die Berufung bei Ansprüchen auf einmalige Leistungen ausgeschlossen. Doch fallen nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl. BSGE 22, 181, 182 mwN) unter den Begriff der „Leistungen” iS des § 144 SGG nur Ansprüche des Versicherten gegen den Versicherungsträger und sonstiger Berechtigter gegen den Staat, gegen öffentliche Körperschaften oder Anstalten, also Sozialleistungen des Staates, der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, Anstalten oder der Versorgungsbehörden an einzelne Personen. Bei der Zustimmung zur Massenentlassung nach § 18 KSchG handelt es sich nicht um eine solche Sozialleistung. Der 10. Senat des BSG hat als Leistungen allerdings auch Handlungen verstanden, aus denen dem Einzelnen ein rechtlicher Vorteil erwächst (SozR Nr. 30 zu § 144 SGG). Aus der Zustimmung des Ausschusses können zwar dem einzelnen Beteiligten Vorteile erwachsen. Entscheidend gegen die Anwendung des § 144 SGG spricht aber, daß diese Zustimmung anderen Beteiligten, insbesondere den Arbeitnehmern zum Nachteil gereichen kann.

In der Sache ist die Revision begründet. Die angefochtenen Bescheide sind nicht rechtswidrig.

In Betrieben mit in der Regel mindestens 50 und weniger als 500 Arbeitnehmern ist der Arbeitgeber nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 KSchG verpflichtet, dem AA schriftlich Anzeige zu erstatten, bevor er mindestens 10 vH der im Betrieb regelmäßig beschäftigten Arbeitnehmer oder aber mehr als 25 Arbeitnehmer innerhalb von 4 Wochen entläßt. Entlassungen, die nach § 17 KSchG anzuzeigen sind, werden nach § 18 Abs. 1 KSchG vor Ablauf eines Monats nach Eingang der Anzeige beim AA nur mit Zustimmung des Landesarbeitsamts wirksam; die Zustimmung kann auch rückwirkend bis zum Tage der Antragstellung erteilt werden. Mit der Anzeige des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs. 1 KSchG an das AA wird eine Sperrfrist in Lauf gesetzt, über deren Verkürzung der Ausschuß entscheidet. Kündigungen zu einem Termin vor Ablauf der Sperrfrist sind zwar rechtsgültig, die Arbeitsverhältnisse enden aber erst mit Ablauf der Sperrfrist (Hueck, Kündigungsschutzgesetz, Komm, 9. Aufl, § 18 RdNr. 24 und 4).

Die Zustimmung zur Massenentlassung vor Ablauf der Sperrfrist steht im pflichtgemäßen Ermessen des Ausschusses (LSG Niedersachsen Dienstblatt BA Ausgabe C Nr. 987 a; LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1959, 1040; Monjau, Kündigungsschutz, gesetz, Komm, 3. Aufl, Bem 7 zu § 20; Hueck aaO RdNr. 12 zu § 20). Nach dem Wortlaut des Gesetzes ist allerdings ausdrücklich nur hinsichtlich der rückwirkenden Zustimmung geregelt, daß das Landesarbeitsamt sie erteilen kann (§ 8 Abs. 1 Halbs 2 KSchG). Allein aus dem engen Zusammenhang dieser Vorschrift mit dem 1. Halbsatz des § 18 Abs. 1 KSchG ergibt sich aber schon, daß die Zustimmung generell im Ermessen des Landesarbeitsamtes steht. Dies folgt darüber hinaus insbesondere auch aus § 20 Abs. 3 und § 18 Abs. 3 KSchG. Danach hat das Landesarbeitsamt vor seiner Entscheidung nach § 18 Abs. 1 KSchG zu prüfen, ob der Arbeitgeber die Entlassungen rechtzeitig nach § 8 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) angezeigt oder aus welchen Gründen er die Anzeige unterlassen hat. Das Landesarbeitsamt soll das Ergebnis dieser Prüfung bei seinen Entscheidungen berücksichtigen (§ 18 Abs. 3 KSchG). In § 20 Abs. 3 KSchG wird vorgeschrieben, der Ausschuß habe sowohl das Interesse des Arbeitgebers als auch der zu entlassenden Arbeitnehmer, das öffentliche Interesse und die Lage des gesamten Arbeitsmarktes unter besonderer Beachtung des Wirtschaftszweiges, dem der Betrieb angehört, zu berücksichtigen. Die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Ausschusses hängt demgemäß davon ab, daß er die Vorschrift des § 20 Abs. 3 KSchG beachtet hat. Auf die Anfechtungsklage gegen die Entscheidung des Ausschusses haben die Gerichte voll nachzuprüfen, ob dies geschehen ist. Der Ausschuß hat die in § 20 Abs. 3 KSchG genannten Interessen zu berücksichtigen. Wenn er das unterläßt und auch nur einen zu berücksichtigenden Gesichtspunkt übersieht, ist seine Entscheidung rechtswidrig. Es gehört aber zum Bereich seines pflichtgemäßen Ermessens, wie er die Interessen gewichtet, welchen Interessen er im Einzelfall den Vorrang einräumt. Das Gesetz hat ihm für diese Abwägung keine Richtlinien vorgeschrieben. In § 18 Abs. 3 KSchG ist lediglich angeordnet, daß bei der Entscheidung neben den Gesichtspunkten des § 20 Abs. 3 KSchG auch berücksichtigt werden soll, ob der Arbeitgeber die Entlassungen rechtzeitig angezeigt oder aus welchen Gründen er die Anzeige unterlassen hatte.

Soweit die Behörde, Körperschaft oder Anstalt des öffentlichen Rechts ermächtigt ist, nach ihrem Ermessen zu handeln, ist die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes dann gegeben, wenn die gesetzlichen Grenzen dieses Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Die angefochtenen Bescheide des Ausschusses sind danach aber nicht rechtswidrig.

Vor der Entscheidung vom 16. November 1973 hat der Ausschuß, wie aus dem Bescheid hervorgeht, gemäß § 20 Abs. 1 Satz 2 KSchG den Arbeitgeber angehört. Ein Betriebsrat, der ebenfalls hätte angehört werden müssen, hat nicht bestanden. Bei seiner Entscheidung ist der Ausschuß, wie es für eine rechtmäßige Ermessensentscheidung notwendig ist, von dem richtigen und vollständig ermittelten Sachverhalt ausgegangen. Er hat diesen Sachverhalt im Bescheid ausführlich dargelegt.

Zu den weiteren rechtlichen Voraussetzungen für seine Entscheidung hat der Ausschuß im Bescheid vom 27. November 1973 ausgeführt, er habe die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerinteressen gewürdigt unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage. Im Widerspruchsbescheid hat der Ausschuß auf sämtliche in § 20 Abs. 3 KSchG genannten Gesichtspunkte hingewiesen und ausgeführt, er habe ihnen in der angefochtenen Entscheidung Rechnung getragen. Daraus ist zu entnehmen, daß der Ausschuß jedenfalls im Widerspruchsverfahren auch das im Bescheid vom 27. November 1973 nicht ausdrücklich erwähnte öffentliche Interesse berücksichtigt hat. Es ist darüber hinaus kein solches Interesse erkennbar, das zu Gunsten der vom Kläger begehrten Verkürzung der Sperrfrist sprechen könnte. Zwar kann ein öffentliches Interesse an der Erhaltung eines Betriebes auf gesunder finanzieller Grundlage bestehen, das für eine möglichst frühzeitige Entlassung der Arbeitnehmer spricht (vgl. Hueck aaO RdNr. 12 zu § 20). Dieses Interesse ist hier aber wegen der Eröffnung des Konkursverfahrens nicht gegeben.

Mit den Ausführungen zu § 20 Abs. 3 KSchG im Bescheid und im Widerspruchsbescheid hat der Ausschuß schließlich seiner Pflicht genügt, die Gründe für eine Ermessensentscheidung erkennbar zu machen. Darlegen muß der Ausschuß nur die wesentlichen Gründe seiner Entscheidung (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit S 185/11).

Die angefochtenen Bescheide sind nicht deshalb rechtswidrig gewesen, weil der Ausschuß sie tragend damit begründet hat, daß der Arbeitgeber die Anzeige nicht rechtzeitig erstattet habe. Wenn der Ausschuß diesem Gesichtspunkt bei seiner Interessenabwägung Vorrang vor den in § 20 Abs. 3 KSchG genannten etwa für eine Verkürzung der Sperrfrist sprechenden Gesichtspunkten eingeräumt hat, so hat er damit weder die gesetzlichen Grenzen seines Ermessens überschritten noch von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (vgl. LSG Baden-Württemberg, Breithaupt 1959, 1040; Urteil des Bayerischen LSG vom 1. März 1967 – L 4/Ar 31/64 –).

Daß der Arbeitgeber hier die Massenentlassungen nicht rechtzeitig nach § 8 AFG angezeigt hat, hat der Ausschuß im angefochtenen Bescheid zutreffend dargelegt. Nach § 8 AFG hat der Arbeitgeber Massenentlassungen dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes unverzüglich schriftlich mitzuteilen, wenn erkennbare Veränderungen des Betriebes innerhalb der nächsten 12 Monate voraussichtlich dazu führen, daß Arbeitnehmer in der in § 17 Abs. 1 KSchG bezeichneten Zahl entlassen oder auf eine andere Tätigkeit umgesetzt werden, für die das Arbeitsentgelt geringer ist. Die Lage des Betriebes der Arbeitgeberin hat im vorliegenden Fall sich im Herbst 1973 erheblich verändert. Wie der Ausschuß im Widerspruchsbescheid betont hat, sind am 27. September 1973 ernsthafte Liquiditätsschwierigkeiten aufgetreten, denn die Firma konnte von diesem Tage an die Löhne und Gehälter nicht mehr bezahlen. Die Gefahr von Massenentlassungen war deshalb erkennbar und wurde es um so mehr, als die Arbeitgeberin am 15. Oktober 1973 die Eröffnung des Vergleichsverfahrens beantragen mußte. Es war deshalb bereits am 27. September 1973 und mehr noch am 15. Oktober 1973 vorauszusehen, daß es zu Massenentlassungen kommen würde. Jedenfalls haben so schwerwiegende Gründe für die Notwendigkeit solcher Entlassungen gesprochen, daß die Arbeitgeberin mindestens zu einer vorsorglichen Mitteilung an den Präsidenten des Landesarbeitsamtes verpflichtet war. Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß sich doch noch Kreditgeber zur Finanzierung der Lohn- und Gehaltszahlungen finden würden, sind nicht vorgetragen. Von Tag zu Tag wurden die Aussichten auf solche Kredite geringer.

Von der Mitteilungspflicht nach § 8 AFG war die Arbeitgeberin auch nicht dadurch entlastet, daß sie bei Bekanntwerden der voraussichtlichen Massenentlassungen eine weitere Verschlechterung der Lage des Betriebes befürchten mußte. Dem Gesetzgeber ist bewußt gewesen, daß dem Arbeitgeber aus der Mitteilung von voraussichtlichen Massenentlassungen und aus den daraufhin eingeleiteten Maßnahmen der BA Nachteile erwachsen können. Er hat deshalb im § 8 Abs. 2 AFG ausdrücklich vorgeschrieben, daß die BA bei ihren Maßnahmen nach dem zweiten Abschnitt des AFG das Interesse des Betriebes an einer Geheimhaltung der geplanten Veränderungen zu berücksichtigen habe, soweit dies mit dem arbeitsmarktpolitischen Interesse an einer frühzeitigen Einleitung der Maßnahmen vereinbar ist. Über diese gesetzliche Regelung hinaus kann die Befürchtung des Arbeitgebers nicht berücksichtigt werden.

Nach § 18 Abs. 3 KSchG ist zu prüfen, ob der Arbeitgeber die Entlassungen rechtzeitig nach § 8 AFG angezeigt hat. Die Pflicht nach § 8 AFG dient dem arbeitsmarktpolitischen Interesse an einer frühzeitigen Einleitung der erforderlichen Maßnahmen durch die BA bei Massenentlassungen. Durch die vorgeschriebenen Anzeigen der Arbeitgeber soll es der BA ermöglicht werden, auf der Grundlage des AFG rechtzeitig die erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Aus diesem Sinn und Zweck des Gesetzes folgt aber nicht – wie das LSG offenbar meint –, daß die Anzeige nur dann nicht rechtzeitig iS des § 18 Abs. 3 KSchG erstattet ist, wenn durch ihre Verspätung im Einzelfall konkrete Maßnahmen des AA verzögert wurden. Es genügt, daß der Arbeitgeber die erste Voraussetzung für ein rechtzeitiges Eingreifen der BA nicht geschaffen und die BA deshalb keine Möglichkeit dazu gehabt hat.

Zu Unrecht meint das LSG, nach dem allgemeinen Sinn und Zweck der §§ 17 ff KSchG dürfe der Ausschuß die Zustimmung zur fristgerechten Kündigung nur dann verweigern, wenn gleichzeitig konstruktive Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit möglich sind und unternommen werden. Die Anzeigepflicht nach § 17 KSchG und die Entlassungssperre nach § 18 KSchG sollen es der BA ermöglichen, bei Massenentlassungen einzugreifen, sie einzuschränken und davon betroffene Arbeitnehmer anderweitig zu vermitteln (BSGE 9, 5). Das Gesetz hat aber nicht die Entscheidung des Ausschusses mit solchen Eingriffen verknüpft. Es hat vielmehr in §§ 18 Abs. 3 und 20 Abs. 3 KSchG im einzelnen geregelt, welche Merkmale bei der Entscheidung über den Antrag auf Verkürzung der Sperrfrist zu beachten sind. Dabei hat es nicht umgekehrt die Ermessensentscheidung ausgeschlossen und die Verkürzung zwingend vorgeschrieben, wenn keine Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung der Arbeitslosigkeit getroffen werden. Vermeidung oder Verminderung von Arbeitslosigkeit hat das Gesetz insbesondere mit der Pflicht zur Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage angesprochen. Die Lage des Arbeitsmarktes kann für die Verkürzung der Sperrfrist sprechen, wenn etwa großer Bedarf an den von der Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern besteht. Mit der Berücksichtigung der Lage des Arbeitsmarktes verlangt das Gesetz aber nicht, daß die Arbeitslosigkeit stets ganz vermieden werden oder daß mindestens eine Möglichkeit dazu bestehen muß. Es wäre auch geradezu widersinnig, zu Lasten der Arbeitnehmer stets die Verkürzung der Sperrzeit vorzuschreiben, wenn sie etwa ohnehin in absehbarer Zeit nicht in andere Arbeitsplätze vermittelt werden können. Eine Benachteiligung der Arbeitnehmer in solchen Fällen und eine Bevorzugung derjenigen Arbeitnehmer, für die Vermittlungsmöglichkeiten etwa schon im Anschluß an die Sperrfrist bestehen, ist nicht gerechtfertigt.

Aus allen diesen Gründen ist die Revision begründet.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 99

NJW 1980, 2430

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