Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerpflegebedürftigkeit. Pflegegeld. Kinder. geistige Behinderung. Down-Syndrom. Mongolismus. Pflegebedarf. Aufsicht. Anleitung. Rehabilitation. Zeitaufwand

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Besonderheiten der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit (iS von § 53 Abs 1 SGB V) bei geistig behinderten Kindern.

 

Normenkette

SGB V §§ 53, 57; BSHG § 69

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.08.1993; Aktenzeichen L 5 K 29/93)

SG Koblenz (Urteil vom 11.03.1993; Aktenzeichen S 5 K 47/92)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1993 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt von der beklagten Krankenkasse (KK) Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit iS von § 53 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V).

Die im November 1988 geborene Klägerin leidet an einem Down-Syndrom (Mongolismus). Ihren im Dezember 1991 gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit nach §§ 53 ff SGB V lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Januar 1992 ab. Dem Bescheid lag ein Gutachten des medizinischen Dienstes der Krankenversicherung zugrunde, das zu dem Schluß kam, bei der Klägerin bestehe ein Morbus Down bei organischer Gesundheit ohne überdurchschnittlichen Pflegebedarf. Die Hilfebedürftigkeit übersteige nicht wesentlich die eines gleichaltrigen Kindes von drei Jahren. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 28. April 1992). Das Sozialgericht (SG) hat im nachfolgenden Klageverfahren von den behandelnden Kinderärzten einen Bericht eingeholt und die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. März 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 19. August 1993). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin bedürfe infolge ihrer Behinderung ständig der Aufsicht und der besonderen Hilfe und Pflege. Sie erfülle jedoch nicht die Anforderungen, die § 53 Abs 1 SGB V und die hierzu von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erlassenen Richtlinien für die Gewährung von häuslicher Pflegehilfe voraussetzten.

Mit der vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 53 SGB V sowie einen Verstoß gegen den Untersuchungsgrundsatz. Sie macht geltend, das LSG habe für die Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit im frühen Kindesalter unzutreffende Voraussetzungen aufgestelt. Diese stünden weder mit dem Wortlaut des § 53 SGB V noch mit der Intention des Gesetzgebers in Einklang. Das LSG habe sich zudem über die vom medizinischen Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen herausgegebenen Arbeitshilfen zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern, die normkonkretisierenden Charakter hätten, hinweggesetzt.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Koblenz vom 11. März 1993 und des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (gemäß § 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist im Sinne der Zurückverweisung begründet.

Die Klage ist nicht deshalb unzulässig, weil die Klägerin nach dem Klageantrag ihren Anspruch nicht ausdrücklich auf eine bestimmte Leistungsart konkretisiert hat. Die §§ 55 bis 57 SGB V sehen als Leistungen der häuslichen Pflegehilfe (§ 53 Abs 1 SGB V) vor: Die Gewährung einer Pflegekraft als Sachleistung (§ 55 Abs 1 SGB V), die Bereitstellung von Urlaubs- bzw Verhinderungspflege (§ 56 SGB V) und die Zahlung von Pflegegeld, wenn die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang sichergestellt werden kann (§ 57 Abs 1 SGB V). Die Klägerin hatte bereits im Verwaltungsverfahren ihren Antrag dahingehend konkretisiert, daß sie anstelle der häuslichen Pflegehilfe die Zahlung von 400,00 DM je Kalendermonat begehrte, weil sie die häusliche Pflege im eigenen Haushalt bzw im Haushalt ihrer Familie in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen könne. Als Pflegeperson nannte sie ihre Mutter. Von diesem Begehren ist sie in der Folgezeit auch dadurch nicht abgerückt, daß sie – offensichtlich auf Veranlassung des SG bzw LSG – den Klageantrag auf alle (möglichen) Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit erweitert hat. Ihr Klagebegehren ist von daher allein die Leistung von Pflegegeld gemäß § 57 Abs 1 iVm § 53 Abs 1 SGB V.

Der Anspruch auf Pflegegeld nach § 57 SGB V setzt das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit iS von § 53 Abs 1 SGB V voraus. Die vom LSG getroffenen Feststellungen lassen eine Beurteilung der Frage, ob die Klägerin als schwerpflegebedürftig anzusehen ist, nicht zu. Das LSG hat zu den weiteren Anspruchsvoraussetzungen, insbesondere ob die nach § 54 SGB V erforderliche Vorversicherungszeit erfüllt ist, keine Feststellungen getroffen. Deshalb kann sich das angefochtene Urteil auch nicht aus anderen Gründen, etwa fehlender Anwartschaft, als richtig erweisen.

Nach § 53 Abs 1 SGB V ist als schwerpflegebedürftig anzusehen, wer nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedarf. “Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie der Senat im Anschluß an die Rechtsprechung des 1. und 4. Senats des BSG (SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 4) bereits wiederholt (SozR 3-2500 § 53 Nr 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994, 3/1 RK 7/93 Die Leistungen 1995, 35; und 3/1 RK 44/93 Die Leistungen 1995, 31 sowie Urteile vom 14. September 1994, 3/1 RK 19/93 und 3/1 RK 35/93) dargelegt hat, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff. Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit seien an den Inhalt der von den Spitzenverbänden der Krankenkassen erlassenen Richtlinien zur Abgrenzung des Personenkreises der Schwerpflegebedürftigen rechtlich gebunden (vgl hierzu im einzelnen: SozR 3-2500 § 53 Nr 6 und die Urteile vom 9. März 1994, aaO).

Die insoweit zu berücksichtigenden Tätigkeiten des täglichen Lebens hat das BSG, ausgehend von den Richtlinien der Spitzenverbände der KKn, in einem Katalog von insgesamt 18 Verrichtungen zusammengefaßt (vgl hierzu die Urteile des erkennenden Senats SozR 3-2500 § 53 Nrn 5 und 6; Urteile vom 9. März 1994, 3/1 RK 7/93 und 44/93). Der Katalog setzt sich zusammen aus 14 Verrichtungen des Grundbedarfs aus den Bereichen Mobilität, Körperpflege, Ernährung und Kommunikation sowie vier Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs.

Ergibt sich hierbei ein Hilfebedarf bei 14 oder mehr Verrichtungen, so ist Schwerpflegebedürftigkeit anzunehmen, ohne daß weitere Ermittlungen zur Intensität des jeweiligen Hilfebedarfs erforderlich sind. Den vom Gesetzgeber bewußt hoch angesetzten Maßstab (§ 53 Abs 1 SGB V: Hilfebedarf “in sehr hohem Maße”) für die Gewährung von Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit erfüllt eine derart hilflose Person ohne weiteres; denn sie kann sich – wie im Gesetzgebungsverfahren vorausgesetzt (BT-Drucks 1 1/2237, S 183) – in “nahezu allen Bereichen” nicht selbst versorgen. Besteht ein Hilfebedarf bei weniger als 14, aber mehr als 8 Verrichtungen, so kommt die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur in Betracht, wenn zusätzliche Umstände eine Gleichstellung des Hilfebedarfs des Versicherten bei den Katalogtätigkeiten mit demjenigen bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen rechtfertigen. Insoweit ist in einem zweiten Schritt zu den einzelnen Katalogtätigkeiten jeweils Umfang und Art des Pflegebedarfs zu ermitteln. Besteht ein Hilfebedarf nur bei weniger als 9 Verrichtungen, sind Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit nach §§ 53 ff SGB V nicht zu gewähren; auf den Umfang des Hilfebedarfs bei einzelnen Verrichtungen kommt es in diesen Fällen nicht an. Eine derart schematisierte Erfassung und Bewertung des Hilfebedarfs ist angesichts der Vielzahl von Betroffenen zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung grundsätzlich unabdingbar (vgl hierzu BSGE 73, 146, 155 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4; BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 6).

Auf die Feststellungen zum Hilfebedarf bei den Katalogtätigkeiten kann auch bei Schwerbehinderten und Beziehern von Pflegegeld nach dem BSHG nicht verzichtet werden. Das gilt auch für Versicherte, die als hilflos iS des Schwerbehindertenrechts (§ 33b EStG) anzusehen sind. Denn § 53 Abs 1 SGB V setzt ein gesteigertes Maß der Hilflosigkeit voraus, das anhand der aufgezeigten eigenständigen Kriterien zu ermitteln ist (so auch für die Hilflosigkeit iS des § 69 Abs 3 BSHG: BVerwGE 80, 54, 60). Auch aus der Tatsache, daß der Sozialhilfeträger der Klägerin Pflegegeld nach § 69 Abs 3 BSHG gewährt, kann – wie das LSG zutreffend erkannt hat – nicht der Schluß gezogen werden, daß die Klägerin als schwerpflegebedürftig iS von § 53 Abs 1 SGB V anzusehen ist. Der Gesetzgeber hat den in § 53 SGB V erstmals verwandten Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit bewußt selbständig definiert (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2). Er unterscheidet sich schon durch die an den notwendigen Hilfebedarf gestellten Anforderungen vom Begriff der Pflegebedürftigkeit iS des § 69 Abs 3 BSHG. Der an den Katalogtätigkeiten ausgerichtete eigenständige Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit gilt im Grundsatz auch für Kinder. Bei ihnen ist jedoch das aufgezeigte Schema zur Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit nur eingeschränkt verwendbar. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß nach § 53 SGB V nur der krankheits- oder behinderungsbedingte Pflegebedarf zu berücksichtigen ist und Kinder auch ohne die Auswirkungen von Krankheiten oder Behinderungen je nach ihrem Entwicklungsstadium für die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens Hilfe benötigen. Die Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit setzen zudem eine gewisse Dauerhaftigkeit des Hilfebedarfs voraus, an der es bei Kindern zumindest dann fehlen kann, wenn sich die Auswirkungen einer bestehenden Behinderung oder Krankheit entwicklungsbedingt noch verändern.

§ 53 SGB V kann dennoch nicht entnommen werden, daß Kinder während dieses Lebensabschnitts grundsätzlich nicht zum leistungsberechtigten Personenkreis zählen. Der erkennende Senat hat mit Urteil vom 14. Dezember 1994 (3 RK 9/94, zur Veröffentlichung vorgesehen) entschieden, daß selbst Säuglinge und Kleinkinder von den Leistungen nach §§ 53 ff SGB V nicht ausgeschlossen sind, obgleich sie bei den im Katalog aufgeführten Verrichtungen unabhängig von einer Krankheit oder Behinderung allein aufgrund ihres Lebensalters in vollem Umfang fremder Hilfe bedürfen. Dabei wurden als Säuglinge Kinder unter 12 Monaten und als Kleinkinder Kinder zwischen ein und drei Jahren bezeichnet (entsprechend der Begriffsdefinition im Säuglingsnahrungswerbegesetz vom 10. Oktober 1994 (BGBl I 2846). Zur Begründung wurde auf die Regelung der Vorversicherungszeit für versicherte Kinder in § 54 Abs 2 Satz 2 SGB V, die Entwicklung des Anspruchs von Kindern auf Pflegegeld nach den §§ 68, 69 BSHG und die Regelung der Pflegebedürftigkeit von Kindern in § 15 Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI) hingewiesen, einer Vorschrift, die am 1. Januar 1995 in Kraft tritt, auch wenn Leistungen erst für die Zeit ab April 1995 zu gewähren sind (Art 68 Abs 1 des Gesetzes zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit – PflegeVG –, vom 26. Mai 1994, BGBl I S 1014). Hieraus folgt, daß ein Ausschluß älterer Kinder aus dem Anwendungsbereich der §§ 53 ff SGB V erst recht nicht in Betracht kommt.

Die Klägerin war in dem für die Entscheidung maßgebenden Zeitraum zwischen 3 Jahren und 4 Jahren und 9 Monaten alt. Sie zählt damit nicht mehr zum Kreis der Kleinkinder im Sinne der oben genannten Definition, für die, wie der Senat mit Urteil vom 14. Dezember 1994 (3 RK 9/94) im einzelnen begründet hat, zur Feststellung von Schwerpflegebedürftigkeit nicht auf den von der Rechtsprechung entwickelten Katalog zurückgegriffen werden kann. Bei Kindern ist dieser Katalog jedoch zumindest bis zum Alter von 8 Jahren (vgl Urteil vom 14. Dezember 1994, 1/3 RK 65/93) insoweit zu modifizieren, als die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs bei der Erfassung der Verrichtungen, bei denen ein krankheits- bzw behinderungsbedingter Pflegemehrbedarf besteht (erste Stufe der Ermittlung des Pflegebedarfs), unberücksichtigt bleiben.

Bei Erwachsenen hat die Erfassung der Katalogtätigkeiten, bei denen ein Pflegebedarf besteht, den Sinn, diejenigen Fälle von einer weiteren, ins Detail gehenden Ermittlung des Hilfebedarfs auszunehmen, bei denen entweder schon die große Zahl der hilfebedürftigen Verrichtungen den Schluß zuläßt, daß Schwerpflegebedürftigkeit in jedem Fall vorliegt, oder bei denen wegen der geringen Zahl solcher Verrichtungen die Notwendigkeit von Pflege “in sehr hohem Maße” von vornherein ausgeschlossen werden kann. Der Katalog nennt nur Verrichtungen, die von einem gesunden Erwachsenen ohne fremde Hilfe erbracht werden. Die Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Bedarfs werden jedoch auch bei gesunden Kindern von den Betreuungspersonen und nicht von den Kindern selbst ausgeführt. Die Einbeziehung des hauswirtschaftlichen Bedarfs würde deshalb die Gewichtung zwischen den Verrichtungen, bei denen ein Mehrbedarf besteht und solchen, bei denen dies nicht der Fall ist, sachwidrig zu Lasten kranker bzw behinderter Kinder verschieben. Bei Kindern ist deshalb in der ersten Stufe zu prüfen, bei welchen der verbleibenden 14 Katalogtätigkeiten ein behinderungsbedingter Pflegemehrbedarf besteht. Ist bei Kindern behinderungsbedingt auch bei den vier Tätigkeiten des hauswirtschaftlichen Bereichs ein höherer Aufwand erforderlich als bei gleichaltrigen gesunden Kindern, so muß der entsprechende Zeitbedarf im Rahmen der Gleichstellungssachverhalte, also auf der zweiten Stufe der Ermittlung des gesamten Pflegebedarfs, berücksichtigt werden.

Auch bei Kindern kann der Hilfebedarf bzw der im Vergleich zu einem gesunden Kind erhöhte Betreuungs- und Pflegeaufwand nicht pauschal bewertet werden. Der Gesetzgeber hat in vergleichbaren Regelungsbereichen eine Differenzierung nach den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen ausdrücklich auch für Kinder vorgesehen. Dies wird in den Arbeitshilfen des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern (WzS 1993, 280) verkannt, soweit dort die Empfehlung ausgesprochen wird, bei Kindern zwischen drei und acht Jahren könne auch – ohne konkrete Betrachtung des Hilfebedarfs in den einzelnen Bereichen – von Schwerpflegebedürftigkeit ausgegangen werden, wenn das Entwicklungsalter nicht mehr als der Hälfte des biologischen Alters entspreche. Angesichts der erheblichen Voraussetzungen, die an den erforderlichen Pflegemehraufwand gestellt werden, ist bei einer derart pauschalen Bewertung eine nicht gerechtfertigte Bevorzugung der genannten Altersgruppe zum einen gegenüber Kleinkindern und Säuglingen, zum anderen gegenüber Erwachsenen nicht auszuschließen; selbst wenn eine Beurteilung nach der Differenz von Entwicklungs- und Lebensalter nach ärztlicher Erfahrung häufig zu sachgerechten Ergebnissen führt. Dies folgt schon aus der Tatsache, daß auch bei einem Entwicklungsalter, das hinter dem Lebensalter zurückbleibt, nicht ohne weiteres ein die Schwerpflegebedürftigkeit begründender erhöhter Hilfebedarf angenommen werden kann. Eine erhebliche Differenz zwischen Entwicklungs- und biologischem Alter kann von daher – ebenso wie deren Fehlen – allenfalls als Indiz angesehen werden.

Ein Hilfebedarf “in sehr hohem Maße”, wie ihn § 53 Abs 1 SGB V für den gegen den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung gerichteten Anspruch auf häusliche Pflegehilfe voraussetzt, liegt – bei einer Fortentwicklung der von der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen – bei Kindern dann stets vor, wenn bei 11 oder mehr (etwa 80 und mehr vH) Verrichtungen ein meßbarer zusätzlicher Hilfebedarf gegenüber gleichaltrigen gesunden Kindern besteht. Tritt ein derartiger Mehraufwand bei 7 bis 10 Verrichtungen (50 bis etwa 80 vH) auf, liegt ein Hilfebedarf in sehr hohem Maße nur dann vor, wenn besondere Gleichstellungssachverhalte erfüllt sind, die den Schluß zulassen, daß der Pflegeaufwand ebenso gewichtig ist wie bei einem eindeutig Schwerpflegebedürftigen. Als Gleichstellungssachverhalte kommen insbesondere in Betracht:

  • der zeitliche Umfang des Pflegebedarfs sowie
  • die körperliche und psychische Belastung der Pflegeperson.

Der zeitliche Mehraufwand für Pflegeleistungen kann in diesem Bereich die Annahme von Schwerpflegebedürftigkeit nur dann rechtfertigen, wenn er den täglichen Hilfebedarf gesunder Kinder um etwa 3 Stunden übersteigt. In diesem Zusammenhang ist bei geistig behinderten Kindern auch der Zeitaufwand zu berücksichtigen, der dadurch entsteht, daß bei außer Haus durchgeführten therapeutischen Maßnahmen (zB logopädische oder krankengymnastische Behandlung) eine Begleitung des Kindes erforderlich ist. Zwar bedürfen auch gesunde Kinder während des hier maßgebenden Altersabschnitts grundsätzlich einer Begleitung, soweit Wege außerhalb des vertrauten Umfelds der elterlichen Wohnung zurückzulegen sind. Bei gesunden Kindern fallen Wege zu auswärtigen therapeutischen Maßnahmen jedoch nicht an.

Das LSG hat sich zum Pflegemehrbedarf der Beurteilung des SG angeschlossen. Dieses meint, die Behinderung der Klägerin erfordere in den Bereichen Hygiene und Kommunikation einen zusätzlichen Hilfebedarf. Hinzu komme ein erhöhter Aufsichtsbedarf und ein Mehraufwand zur Förderung der Klägerin. Der “Rückstand” im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern sei aber noch nicht in allen Bereichen so gravierend, daß bereits Schwerpflegebedürftigkeit iS des § 53 SGB V anzunehmen sei. Diese Feststellungen enthalten zu Art und Umfang des (zusätzlichen) Hilfebedarfs nur pauschale Angaben, die insbesondere nicht erkennen lassen, ob bei mindestens 11 der Verrichtungen ein Hilfebedarf besteht, oder ob Hilfe nur bei weniger als 7 Verrichtungen benötigt wird. Sie lassen damit eine nachvollziehbare Subsumtion unter den gesetzlichen Tatbestand der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern nicht zu. Es fehlen Feststellungen zum Hilfebedarf bei den einzelnen Katalogtätigkeiten.

Es liegt nahe, zunächst die Klägerin aufzufordern, die täglich tatsächlich erfolgten behinderungsbedingten zusätzlichen Pflegeleistungen nach Art und Zeitaufwand zu umschreiben. Besteht danach bei 7 oder mehr Verrichtungen ein zusätzlicher Pflegeaufwand und erreicht der dargelegte zusätzliche zeitliche Aufwand täglich 3 Stunden, so ist dessen Erforderlichkeit vom LSG zu beurteilen.

Von der Klägerin sind insoweit die zusätzlich notwendigen Pflegemaßnahmen zu beschreiben. Angaben, die den zusätzlichen Pflegebedarf ausschließlich nach dem Gegenstand oder Sinn solcher Maßnahmen kennzeichnen, also zB die Angabe: “Fortwährende Anleitung durch die Mutter”, sind zur Beschreibung unzureichend. Denn aus ihr wird nicht deutlich, inwieweit der Hilfebedarf über die altersgemäß ohnehin erforderliche Aufsicht und Anleitung des Kindes hinausgeht. Die Beschreibung muß vielmehr deutlich machen, bei welchen Verrichtungen ein erhöhter Aufwand nötig ist. Die zusätzliche zeitliche Belastung muß zumindest anhand exemplarischer Beispiele der im Tagesablauf wiederkehrenden Verrichtungen nachvollziehbar dargelegt werden.

Das LSG wird zum Hilfebedarf bei den Katalogtätigkeiten folgendes zu beachten haben: Ein zusätzlicher Pflegebedarf im Vergleich zu gleichaltrigen gesunden Kindern kann nicht nur durch körperliche, sondern auch durch geistige Defizite begründet sein (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 2 und 6). Zu berücksichtigen sind deshalb bei geistig behinderten Kindern neben denjenigen Verrichtungen, die im Gegensatz zu einem gleichaltrigen gesunden Kind noch gar nicht ausgeführt werden können, auch diejenigen, bei denen ein erheblich höheres Maß an Aufforderung, Anleitung und Kontrolle durch die Pflegeperson erforderlich ist. Dies muß jedoch mit einem nennenswerten zeitlichen Mehraufwand verbunden sein. Die Pflegeperson muß in ähnlicher Weise und in vergleichbarem Ausmaß wie bei einer körperlichen Behinderung zeitlich und örtlich erheblich stärker gebunden sein als es in bezug auf die jeweilige Verrichtung bei der Betreuung eines gleichaltrigen gesunden Kindes der Fall ist. Dies entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats zur Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit bei geistig Behinderten im Erwachsenenalter (BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 6). Weist der jeweils erforderliche Betreuungs- und Pflegeaufwand erkennbare Unterschiede auf, so ist ein Hilfebedarf iS von § 53 Abs 1 SGB V anzunehmen.

Besondere Maßnahmen zur Förderung der Entwicklung geistig behinderter Kinder können iS des § 53 Abs 1 SGB V nicht ohne weiteres als zusätzlicher Hilfebedarf gewertet werden. Zielen derartige Maßnahmen allgemein darauf ab, die Fähigkeit zu eigenständiger Lebensführung zu stärken, so dienen sie vorrangig dem Ziel, den Pflegeaufwand in späteren Lebensabschnitten zu vermeiden oder geringer zu halten. Von daher sind sie dem Bereich der Rehabilitation zuzuordnen. Rehabilitive Maßnahmen zur Vermeidung von Pflege werden von den §§ 53 ff SGB V nicht erfaßt. Auch nach § 5 iVm § 31 SGB XI ist die Rehabilitation zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit nicht Aufgabe der Pflegeversicherung. Zuständig ist vielmehr derjenige Sozialleistungsträger, der im Einzelfall die Rehabilitationsmaßnahme durchzuführen hat. Dies ist vor allem die gesetzliche Krankenversicherung, zu deren Leistungen nach § 11 Abs 2 SGB V auch medizinische oder ergänzende Leistungen zur Rehabilitation zählen, die notwendig sind, um Pflegebedürftigkeit zu vermeiden oder zu mindern.

Maßnahmen der Rehabilitation sind jedoch abzugrenzen von solchen Hilfeleistungen, die den Charakter einer Anleitung haben. Die Anleitung hat zum Ziel, die Erledigung der täglich wiederkehrenden Verrichtungen durch den Pflegebedürftigen im Sinne einer Motivation zur Selbsthilfe sicherzustellen. Anleitungen, die darauf abzielen, geistig behinderten Kindern die eingenständige Ausführung solcher Verrichtungen zu vermitteln, die von gleichaltrigen gesunden Kindern bereits ohne fremde Hilfe erbracht werden, zählen zum Pflegeaufwand iS von § 53 SGB V (so auch BT-Drucks 12/5262, S 96 zu den maßgebenden Hilfeleistungen iS der Pflegeversicherung). Hiervon gehen auch die ergänzenden Arbeitshilfen des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen zur Begutachtung der Schwerpflegebedürftigkeit bei Kindern (WzS 1993, 280) aus. Sie zählen zum (zusätzlichen) Hilfebedarf im Kindesalter auch Maßnahmen, die der Förderung des Erlernens von alterstypischen Fertigkeiten und Eigenschaften dienen. Dazu sollen im wesentlichen gehören:

im 1. Lebensjahr

Entwicklung des Urvertrauens, Entwicklung der Grobmotorik,

im 2./3. Lebensjahr

sichere Gehfähigkeit, Entwicklung der Feinmotorik, Sprachentwicklung, Reinlichkeitserziehung, beginnende Tolerenz von Verboten,

im 4./5. Lebensjahr 

vollständige Beherrschung der Grobmotorik, Reifung der Feinmotorik, selbständiges An- und Auskleiden, selbständiges Waschen, weitere Differenzierung der Sprache, Zusammenspiel mit Gleichaltrigen, Erkennen der Geschlechtlichkeit.

Die genannten notwendigen Förderungs- und therapeutischen Bemühungen sollen, soweit sie von der Pflegeperson erbracht werden, bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit dann berücksichtigt werden, wenn auch Hilfe und Anleitung bei den täglichen Verrichtungen in meßbarem Umfang erbracht wird.

Die Arbeitshilfen binden aber Gerichte und Versicherte nicht (so schon zu der nach § 282 Satz 3 SGB V beschlossenen Begutachtungsanleitung Schwerpflegebedürftigkeit: BSGE 73, 146, 149 = SozR 3-2500 § 53 Nr 4). Sie sind zwar als verwaltungsinterne Gesetzeskonkretisierung zur Vermeidung von Ungleichbehandlungen für die Gerichte beachtlich, soweit sie mit dem Gesetz vereinbar und sachlich vertretbar sind. Dies ist hier nur insoweit der Fall, als die Empfehlungen nicht eine Einbeziehung rehabilitativer Maßnahmen in den maßgebenden Hilfebedarf zur Folge haben. Die aufgeführten Förderungsmaßnahmen können nur dann berücksichtigt werden, wenn sie von der Pflegeperson selbst erbracht werden und in unmittelbarem Zusammenhang mit einer nach § 53 SGB V maßgebenden Verrichtung stehen. Dies ist etwa bei der Förderung von folgenden Eigenschaften und Fertigkeiten der Fall: Gehfähigkeit, Grob- und Feinmotorik, Sprachentwicklung, Reinlichkeitserziehung sowie bei der Anleitung zu selbständigem An- und Auskleiden und Waschen. Insoweit können Maßnahmen, die die Pflegeperson einsetzt, um bei den wiederkehrenden Verrichtungen Hilfe zu leisten, anzuleiten oder zu kontrollieren, nicht von rehabilitativen Elementen getrennt werden, die der Verbesserung der eigenständigen Ausführung durch das Kind dienen.

Erfaßt werden zusätzliche Aufsichtsmaßnahmen und andere Hilfeleistungen grundsätzlich nur in der elterlichen Wohnung und in deren unmittelbarer Nähe mit den bereits erwähnten Ausnahmen, wozu etwa die Begleitung des Kindes auf Wegen gehört, die für seine Lebensführung von elementarer Bedeutung sind. Bei der Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit kann dagegen nicht darauf abgestellt werden, ob das Kind in altersentsprechender Weise am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und etwa der Obhut von Verwandten, Nachbarn, Freunden der Eltern oder einem Babysitter anvertraut werden kann. Die für die Eltern in diesem Lebensbereich auftretenden Einschränkungen ihrer Entfaltungsmöglichkeiten und die im Vergleich zu Eltern gesunder Kinder erheblich stärkere Bindung an die eigene Wohnung stellt keinen Hilfebedarf iS von § 53 Abs 1 SGB V dar.

Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

 

Fundstellen

Breith. 1995, 741

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