Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstufige Juristenausbildung. Beschäftigung. betriebliche Berufsausbildung. Nachversicherung. Praktikum. Spezialstudium. Integrativstudium

 

Leitsatz (amtlich)

Der Absolvent der früheren bayerischen einstufigen Juristenausbildung übte auch während des „Spezialstudiums”, des „Integrativstudiums II” sowie während der anschließenden Zeit bis zur Ablegung der Schlußprüfung eine Beschäftigung zum Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung iS des § 7 Abs 2 SGB IV aus. Er ist für diese Zeiten bei Ausscheiden aus der Beschäftigung nachzuversichern (Anschluß an BSG vom 6.10.1988 – 1 RA 53/87 = BSGE 64, 130 = SozR 2200 § 1232 Nr 26; Abgrenzung zu BSG vom 20.3.1986 – 11a RA 64/84 = BSGE 60, 61 = SozR 2200 § 1232 Nr 19).

Stand: 24. Oktober 2002

 

Normenkette

SGB VI § 8 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, §§ 181, 233 Abs. 1 S. 1; AVG § 9 Abs. 1, § 124 Abs. 1 S. 1; RVO § 1232 Abs. 1, § 1402 Abs. 1 S. 1; SGB IV § 7 Abs. 2; SGG § 41 Abs. 3 S. 2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 22.02.1994; Aktenzeichen L 11 An 161/91)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 10.09.1991; Aktenzeichen S 10 An 144/88)

 

Tenor

Die Revision des Beigeladenen zu 1) gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Februar 1994 wird zurückgewiesen.

Der Beigeladene zu 1) hat dem Kläger auch dessen außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über die Nachversicherung von Zeiten der einstufigen Juristenausbildung des Klägers im Bereich des Beigeladenen zu 1) (Spezialstudium vom 1. Mai 1985 bis 28. Februar 1986; Integrativstudium II vom 1. Januar 1987 bis 28. Februar 1987; abschließende Prüfungszeit vom 1. März 1987 bis 20. November 1987), während der der Kläger im Beamtenverhältnis auf Widerruf zum Beigeladenen zu 1) gestanden hat.

Vom 1. Oktober 1978 bis 20. November 1987 durchlief der Kläger die einstufige Juristenausbildung in B. …, ab 1. Februar 1985 bis zur erfolgreichen Ablegung der Juristischen Staatsprüfung am 20. November 1987 als Rechtsreferendar im Beamtenverhältnis auf Widerruf. Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung wurden für den Kläger während der Zeit seiner juristischen Ausbildung nicht entrichtet.

Den Antrag des Klägers auf Nachversicherung lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 11. Juli 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 1988 ab, weil der Kläger während der gesamten Zeit seiner juristischen Ausbildung als Student an der Universität B. … eingeschrieben und somit nicht versicherungspflichtig oder gemäß § 6 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) versicherungsfrei beschäftigt gewesen sei. Im anschließenden Klageverfahren erklärte sich die Beklagte im Einvernehmen mit dem Beigeladenen zu 1) bereit, den Kläger für die vor Ernennung zum Beamten auf Widerruf abgeleisteten Pflichtpraktika I und II gemäß § 140 Abs 3 AVG, für die nach der Ernennung abgeleisteten Pflichtpraktika III und IV sowie für das Pflichtwahlpraktikum gemäß § 9 AVG nachzuversichern. Die Nachversicherung für die Tätigkeit als beamteter Rechtsreferendar sollte bei der Beigeladenen zu 2) – Bayerische Rechtsanwaltsversorgung – durchgeführt werden.

Hinsichtlich der noch streitigen Nachversicherungszeiten hat das Sozialgericht (SG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. September 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben, den Bescheid der Beklagten vom 11. Juli 1988 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Oktober 1988 geändert und den Beigeladenen zu 1) verurteilt, den Kläger für die Zeiten vom 1. Mai 1985 bis 28. Februar 1986 sowie vom 1. Januar 1987 bis 20. November 1987 nachzuversichern und die Beiträge an die Beigeladene zu 2) zu überweisen. Es hat ausgeführt: Der Kläger sei während der gesamten Zeit des Beamtenverhältnisses auf Widerruf „beschäftigt” iS des § 7 Abs 1 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – (SGB IV) gewesen. Denn nach Abs 2 dieser Vorschrift gelte als Beschäftigung auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung. Das Beamtenverhältnis auf Widerruf sei einer solchen betrieblichen Berufsbildung vergleichbar. Der Kläger sei vom Staat zum Beruf des „Volljuristen” ausgebildet worden; er sei in den einzelnen Ausbildungsabschnitten verschiedenen Stellen zur Ausbildung zugeteilt worden. Die einzelnen Stationen seien in der Bayerischen Justiz-, Ausbildungs- und Prüfungsordnung (JAPO) vorgeschrieben; auch die Teilnahme am „Spezialstudium” und „Integrativstudium II” sei aufgrund der JAPO vom Beigeladenen zu 1) veranlaßt worden. Der Kläger habe während der gesamten Zeit des Beamtenverhältnisses auf Widerruf in einem besonderen Gewaltverhältnis zum Beigeladenen zu 1) gestanden. Die „Beschäftigung” des Auszubildenden iS des § 7 Abs 1 SGB IV während der Zeit des Beamtenverhältnisses auf Widerruf werde durch die Gleichstellung mit einer Beschäftigung iS des § 134 Abs 1 Nr 4b des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in § 134 Abs 2 Nr 1 AFG unterstellt. Auch in § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) werde die Nachversicherung ausdrücklich auf „Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst” erstreckt. Durch diese Entscheidung des Gesetzgebers sei die Gleichstellung der „Einstufigen” mit den Rechtsreferendaren der zweistufigen Ausbildung in vollem Umfang hergestellt.

Der Beigeladene zu 1) rügt mit seiner – vom LSG zugelassenen – Revision eine Verletzung des § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI und des § 7 Abs 1 und 2 SGB IV. Er ist der Ansicht: Auch unter Geltung des § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI komme es für die Frage der Nachversicherung von Beamten auf Widerruf darauf an, ob eine dem Grunde nach versicherungspflichtige Beschäftigung iS des § 7 SGB IV vorgelegen habe. Reine Studienzeiten sowie die die Gesamtausbildung abschließende Prüfungszeit könnten aber nach der – auch auf die einstufige Juristenausbildung in Bayern bezogenen – Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ≪BSG≫ (BSGE 60, 61; 64, 130) nicht als Zeiten einer Beschäftigung iS des § 7 SGB IV angesehen werden. Denn in neueren Entscheidungen (BSG SozR 2200 § 1232 Nr 26; SozR 3-2200 § 1232 Nr 1) sei das BSG lediglich von seiner bislang vertretenen Auffassung abgewichen, für die Zeiten der sogenannten Praktika sei die Nachversicherung nicht durchzuführen. Dem Erscheinungsbild nach sei der Kläger aber während der streitigen Zeiten Student mit der Folge gewesen, daß entgegen der Auffassung des LSG das während dieser Zeiten fortbestehende Beamtenverhältnis auf Widerruf nicht mit einer betrieblichen Berufsbildung iS des § 7 Abs 2 SGB IV vergleichbar sei.

Der Beigeladene zu 1) beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. Februar 1994 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 2) haben keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision ist unbegründet.

Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß der Kläger auch für die Zeiten vom 1. Mai 1985 bis 28. Februar 1986 und vom 1. Januar bis 20. November 1987 nachzuversichern ist und die Beiträge an die Beigeladene zu 2) zu überweisen sind.

Entgegen der Ansicht des LSG ist die Nachversicherung allerdings nicht nach den neuen Vorschriften der § 8 Abs 2, §§ 181 ff SGB VI durchzuführen. Die mit der Revision gerügte Verletzung des § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI kann mithin nicht vorliegen. Denn der Kläger ist vor dem 1. Januar 1992 aus der die Nachversicherung begründenden Beschäftigung ausgeschieden, so daß gemäß § 233 Abs 1 Satz 1 SGB VI die Nachversicherung nach den bisherigen Vorschriften durchzuführen ist. Gemäß § 9 Abs 1, § 124 Abs 1 Satz 1 AVG ist Voraussetzung für die Nachversicherung, daß eine Person aus einer versicherungsfreien Beschäftigung ausscheidet. „Beschäftigung” ist gemäß § 7 Abs 1 SGB IV die nicht selbständige Arbeit in einem Arbeitsverhältnis. Als Beschäftigung gilt nach Abs 2 dieser Vorschrift auch der Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten oder Erfahrungen im Rahmen betrieblicher Berufsbildung. Entgegen der Revisionsrüge hat das LSG die Vorschrift rechtsfehlerfrei angewandt. Denn das Rechtsreferendariat des Klägers im Beamtenverhältnis auf Widerruf während der einstufigen Juristenausbildung in Bayern stellt eine solche Beschäftigung, aus der der Kläger – unversorgt – ausgeschieden ist, dar.

Entgegen der Ansicht des Beigeladenen zu 1) war der Kläger auch während des „Spezialstudiums”, des „Integrativstudiums II” sowie während der anschließenden Zeit bis zur Ablegung der Schlußprüfung am 20. November 1987 „beschäftigt” iS des § 7 SGB IV; denn er ist im Rahmen eines Beamtenverhältnisses auf Widerruf vom Beigeladenen zu 1) zum Beruf des „Volljuristen” ausgebildet worden. Wie das LSG im angefochtenen Urteil zutreffend ausgeführt hat, waren die Stationen dieser Ausbildung in der Bayerischen JAPO vorgeschrieben; auch die Teilnahme am „Spezialstudium” und „Integrativstudium II” war mithin staatlich veranlaßt. Es war die Dienstpflicht des Klägers als Beamten auf Widerruf, sich den vorgegebenen Inhalten der einzelnen Ausbildungsabschnitte entsprechend ausbilden zu lassen; ein Verstoß gegen die JAPO insoweit hätte zugleich ein Dienstvergehen mit möglichen disziplinarrechtlichen Konsequenzen bedeutet.

Zu Recht hat das LSG im angefochtenen Urteil darauf hingewiesen, daß einer Beschäftigung iS des § 134 Abs 1 Nr 4 Buchst b AFG Zeiten eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses als Beamter gleichstehen (§ 134 Abs 2 Nr 1 AFG). Die „Beschäftigung” iS des § 7 Abs 1 SGB IV wird daher während des Bestehens eines Beamtenverhältnisses – auch eines Beamtenverhältnisses auf Widerruf – gesetzgeberisch unterstellt. Eine gleiche Entscheidung hat der Gesetzgeber nunmehr in § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI getroffen, indem er die Nachversicherung ausdrücklich auch auf „Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst” erstreckt hat.

Der Senat sieht sich an seiner Entscheidung auch nicht durch das – scheinbar entgegenstehende – Urteil des 11a Senats vom 20. März 1986 – 11a RA 64/84 – (SozR 2200 § 1232 Nr 19) gehindert. Zwar hatte der 11a Senat in der genannten Entscheidung ausgeführt, daß Absolventen der einstufigen Juristenausbildung in Bayern für die Zeiten der Praktika und die abschließende Prüfungszeit nicht in der Rentenversicherung der Angestellten nachzuversichern seien. Dabei war es ua um das Pflichtwahlpraktikum, Pflichtpraktikum III sowie die abschließende Prüfungszeit gegangen, die der dortige Kläger ebenfalls im Beamtenverhältnis auf Widerruf als Rechtsreferendar absolviert hatte. Der erkennende Senat kann aber offenlassen, ob diese Entscheidung – wie das LSG meint – durch später ergangene Urteile, die allerdings nur Zeiten der Pflichtpraktika betrafen (1. Senat vom 6. Oktober 1988 – 1 RA 53/86, 51/87 und 53/87 – ≪SozR 2200 § 1232 Nr 26≫, 12. Senat vom 21. Februar 1990 – 12 RK 12/87 – ≪SozR 3-2200 § 1232 Nr 1≫ und vom 11. Juni 1992 – 12 RK 46/90 –), überholt ist. Denn der 11a Senat existiert nicht mehr, und an seiner Stelle ist kein anderer Senat mit Entscheidungen aus dem ihm früher übertragenen Rechtsgebiet befaßt worden, so daß keine Anfrage gemäß § 41 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an einen anstelle des 11a Senats zuständigen Senat zu richten war, ob dieser an der Auffassung aus dem Urteil vom 20. März 1986 festhalte (Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, RdNrn 11, 13 und 14 zu § 41).

Wie der 1. Senat des BSG in seinem Urteil vom 6. Oktober 1988 – 1 RA 53/87 – (SozR 2200 § 1232 Nr 26) bereits für einen nicht zum Beamten des Landes ernannten Rechtspraktikanten in Rheinland-Pfalz entschieden hat, sind die im Rahmen der einstufigen Juristenausbildung zurückgelegten reinen Studienzeiten keine „Beschäftigung” im sozialrechtlichen Sinne; dies betrifft die Ausbildungsabschnitte Einführungsstudium, Hauptstudium sowie Vertiefungs- und Wahlstudium, die schwerpunktmäßig an der Hochschule durchgeführt werden. Demgegenüber hat der 1. Senat Praktika, die nicht Teile der Hochschulausbildung sind, als Erwerb beruflicher Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen iS des § 7 Abs 2 SGB IV angesehen und ausgeführt, daß diese Praktika den Tatbestand einer „Beschäftigung” erfüllten. Eine solche vom Ausbildungsgedanken geprägte „Beschäftigung” liegt nach Auffassung des Senats aber erst recht dann vor, wenn die dem universitären Studium nachfolgende Ausbildung in einem Beamtenverhältnis auf Widerruf (Rechtsreferendariat) erfolgt, zwischen Studium als erstem Ausbildungsabschnitt und Referendariat also der besondere Akt der Ernennung in das Beamtenverhältnis liegt und der Auszubildende dadurch in einem beamtenrechtlichen Dienst- und Pflichtenverhältnis steht. Spezialstudium und Integrativstudium, aber auch die anschließende Zeit bis zur Ablegung des juristischen Staatsexamens am 20. November 1987 waren – entgegen ihrer Bezeichnung als „Studium” – nicht mehr Bestandteil der universitären Ausbildung, sondern vielmehr theoretischer Teil der Ausbildung des Rechtsreferendars im Beamtenverhältnis auf Widerruf.

Im Ergebnis beurteilt der Senat die Rechtslage damit gleich wie der 4. Senat des BSG im Urteil vom 14. September 1995 – 4 RA 118/94 –, der § 9 Abs 2 AVG als „unselbständige Ergänzung” zu Abs 1 dieser Vorschrift ansieht und das Vorliegen einer Beschäftigung iS des Abs 1 dahinstehen läßt.

Nur bei dem dargelegten Verständnis der Ausbildung des Rechtsreferendars im Beamtenverhältnis auf Widerruf wird die Gleichstellung der einstufig ausgebildeten Juristen mit den Rechtsreferendaren der zweistufigen Ausbildung in vollem Umfange hergestellt. Dieser Erkenntnis hat der Gesetzgeber nunmehr durch Einführung der Nachversicherung von Personen, die als Beamte auf Widerruf im Vorbereitungsdienst versicherungsfrei oder versicherungsbefreit waren, in § 8 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI ab 1. Januar 1992 Rechnung getragen.

Die Entscheidung, daß die Zahlung der Nachversicherungsbeiträge an die Beigeladene zu 2) zu erfolgen habe, beruht auf § 124 Abs 6a AVG in der bis zum 31. Dezember 1991 geltenden Fassung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

SozR 3-2200 § 1232, Nr. 6

SozSi 1997, 74

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