Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 09.08.1990)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 9. August 1990 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit.

Der 1936 geborene Kläger hat keine förmliche Berufsausbildung durchlaufen. Nach Tätigkeiten in verschiedenen Sparten (ua Landarbeiter, Maschinenarbeiter, Lagerarbeiter, Baggerfahrer) war er von 1963 bis zu seinem Unfall im August 1985 als Kraftfahrer beschäftigt. Die Entlohnung erfolgte nicht nach Tarifvertrag, sondern war frei vereinbart. Sie betrug zuletzt monatlich 3.000,– DM brutto zuzüglich Spesen. Diese Tätigkeit gab er nach dem Unfall aus gesundheitlichen Gründen auf. Er bezieht eine Verletztenrente nach einer MdE von 20 %. 1986 arbeitete er als Wachmann und bezog dann Arbeitslosengeld.

Im Dezember 1987 beantragte er Rente. Die Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom 28. April 1988). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. März 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 9. August 1990) und hat im wesentlichen ausgeführt: Als Kraftfahrer sei der Kläger gehobener Angelernter gewesen. Der Kraftfahrerberuf werde in einer nur zweijährigen Ausbildung erlernt. Es handele sich auch nicht um einen sog „Erwachsenenberuf”. Der für die Ausübung des Kraftfahrerberufes erforderliche Führerschein werde allerdings grundsätzlich erst erteilt, wenn der Bewerber das 21. Lebensjahr vollendet habe. Die zuständige Verwaltungsbehörde könne jedoch gemäß § 7 Abs 2 Straßenverkehrszulassungsordnung Ausnahmen zulassen. Praktisch laufe das wie folgt ab: Jugendliche begännen die Ausbildung zum Berufskraftfahrer in der Regel mit dem 17. oder 18. Lebensjahr, gelegentlich auch schon früher. Den Führerschein der Klasse 2 erhielten sie, sobald sie das 18. Lebensjahr vollendeten. Der Führerschein gelte nur für Fahrten im Rahmen des Ausbildungsverhältnisses, solange weder die Ausbildung abgeschlossen noch das 21. Lebensjahr vollendet sei. Als angelernter Arbeiter seien dem Kläger folgende Tätigkeiten zumutbar, für die keine längere Anlernzeit als drei Monate erforderlich sei und die der Kläger nach seiner gesundheitlichen Verfassung noch wettbewerbsfähig ausüben könne: Leichte Maschinenarbeiten in der Metallindustrie im Sinne der Lohngruppe 3 und 4 des Manteltarifvertrages, Kontrolltätigkeiten in der Metallindustrie im Sinne der Lohngruppe 4 des Metalltarifvertrages, einfache Montagetätigkeiten im Sinne der Lohngruppen 2 bis 4 des Manteltarifvertrages. Außerdem könne der Kläger eine nach Gruppe VIII BAT vergütete Tätigkeit als Pförtner ausüben.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzungen materiellen und formellen Rechts.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. März 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. April 1988 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger ab 1. Januar 1988 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit, zu gewähren;

hilfsweise beantragt er,

das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die bisher vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.

Zutreffend hat das LSG als bisherigen Beruf des Klägers den des Kraftfahrers angesehen, den der Kläger nach den unangegriffenen und deshalb für das Revisionsgericht gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) bindenden Feststellungen nicht mehr ausüben kann. Ob er deswegen berufsunfähig ist oder ob er noch Tätigkeiten ausführen kann, auf die er zumutbar verweisbar ist, läßt sich aufgrund der Feststellungen des LSG noch nicht entscheiden. Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsunfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren Versicherten beträgt. Die Erwerbsfähigkeit beurteilt sich nach dem, was der Versicherte (objektiv) noch kann und was ihm angesichts seiner bisherigen Berufstätigkeit (subjektiv) zumutbar ist. Die Rechtsprechung des BSG hat ein die Berufe einteilendes Mehrstufenschema entwickelt (vgl das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom 14. Mai 1991 – 5 RJ 82/89 – mwN). Grundsätzlich darf der Versicherte nur auf die seinem bisherigen Beruf folgende niedrigere Gruppe verwiesen werden.

Für die Bestimmung, welchen qualitativen Wert Berufstätigkeiten haben, ist zunächst die Dauer der Ausbildung maßgebend. Man geht von der Regelannahme aus, daß sich an der Dauer der Ausbildung zeigt, welches Maß an Wissen, Können und Fertigkeiten vermittelt werden muß. Die Rechtsprechung des BSG hat dabei den „gelernten” Facharbeiter dahin bestimmt, daß er eine mehr als zweijährige Ausbildung voraussetzt. Wer einen Beruf dieser Art ausübt und die für den Beruf vorgeschriebene (mehr als zweijährige) Ausbildung durchlaufen hat, ist deshalb „a priori” Facharbeiter. Diese Gruppe der Gelernten stellt den „Leitberuf” des Facharbeiters dar.

In den gleichen Rang des Mehrstufenschemas ist aber auch derjenige einzuordnen, der sich ohne eine solche formalisierte Ausbildung durch praktische Berufsausübung die Kenntnisse angeeignet hat, die ihn befähigen, sich unter gelernten Facharbeitern auf dem Arbeitsmarkt wettbewerbsfähig und damit vollwertig zu behaupten.

Darüber hinaus sind dem Leitberuf des Facharbeiters diejenigen gleichzuordnen, die in Tätigkeitsbereichen ohne anerkannte Ausbildung oder mit einer Ausbildung bis zu zwei Jahren arbeiten, wenn diese Tätigkeiten den anerkannten Ausbildungsberufen (mit einer mehr als zweijährigen Ausbildung) – insbesondere wegen ihrer Bedeutung für den Betrieb -tarifvertraglich gleichgestellt sind. Die qualitative Bewertung des bisherigen Berufes folgt in diesem Fall nicht aus der Dauer der Ausbildung, sondern unmittelbar aus der Einschätzung durch die Tarifpartner (Urteil des Senats vom 14. Mai 1991 aaO). Die Tarifpartner als die für die Einschätzung eines Berufes „maßgebenden Kreise” haben nicht nur die höhere Sachkunde, sondern sie bestimmen auch durch ihr Verhalten – insbesondere durch die von ihnen bestimmte tarifliche Einstufung – das Ansehen des Berufes. Die Gerichte dagegen finden diese Einschätzung der Berufe in der gesellschaftlichen Wirklichkeit vor, ermitteln sie und folgen ihr. Nur so ist auch gewährleistet, daß auf der einen Seite sich die gerichtlichen Entscheidungen an der Realität des Arbeitslebens ausrichten und daß andererseits den Verwaltungen der Rentenversicherung Maßstäbe geboten werden, die einer Massenverwaltung erst ermöglichen, wirkungsvoll alle Fälle nach gleichen Maßstäben zu beurteilen.

Der Fall des Klägers ist dadurch gekennzeichnet, daß der Kläger gerade nicht nach Tarif entlohnt wurde. Auch in einem solchen Falle kann indessen weder die Vorstellung des Gerichtes vom qualitativen Wert seiner Tätigkeit noch die Ausbildung allein, noch die Meinung des betreffenden Arbeitgebers maßgebend sein. Vielmehr kommt es darauf an, wie der Kläger im Falle einer tariflichen Entlohnung einzustufen gewesen wäre. Es ist also festzustellen, ob es einen Tarifvertrag in dem geographischen und sachlichen Gebiet gibt, in welchem der Versicherte gearbeitet hatte, und unter den die Tätigkeit des Versicherten fiele, wenn sie von einem Tarifvertrag erfaßt worden wäre. Dieser Tarifvertrag gibt dann den Stand der Anschauungen der „maßgebenden Kreise” über die Wertigkeit des Berufes an, den der Versicherte ausgeübt hat.

Fehlt es auch an einem solchen Tarifvertrag, aus dem auf die „Verkehrsanschauung” über den qualitativen Wert des Berufes geschlossen werden kann, kann die Höhe der Entlohnung – sofern sie nicht Gründe hat, die außerhalb der beruflichen Qualität liegen – ein wichtiger Hinweis sein. Die Höhe der Entlohnung kann zeigen, daß die bisher ausgeübte Tätigkeit einem Facharbeiter gleichzustellen war. Die Entlohnung ist damit auch bei tariflich nicht geregelten Tätigkeiten ein wichtiger Anhalt, der erst dann unbeachtet bleiben muß, wenn der Umfang der Anforderungen an den Versicherten in seiner bisherigen Berufstätigkeit deutlich von derjenigen eines Facharbeiters abweicht (BSG Urteil vom 28. Mai 1991 – 13/5 RJ 4/90 –).

Der erkennende Senat hat in seiner Entscheidung vom 21. September 1988 (SozR 2200 § 1246 Nr 159) allerdings bei der Frage der Verweisbarkeit eines Fernfahrers auch auf die Ausbildungsdauer abgestellt und die Möglichkeit erwogen, daß der Kraftfahrer deshalb ein Facharbeiterberuf sei, weil es sich um einen sog „Erwachsenenberuf” handeln könne. Das LSG hat daher zu Recht die Frage des „Erwachsenenberufes” geprüft und sie auf Grund der von ihm festgestellten Tatsachen ohne Rechtsfehler verneint. Mit der Entscheidung des Senats vom 21. September 1988 ist jedoch der schon bisher in der Rechtsprechung zum Ausdruck gebrachte Gedanke, daß die tarifliche Einstufung als solche die Qualität einer Tätigkeit weitgehend bestimmt, nicht aufgegeben worden. Bei dem Kraftfahrer, der Anlaß zum Urteil vom 21. September 1988 gab, handelte es sich um einen Versicherten, der ausschließlich in Dänemark berufstätig war, so daß er von einem deutschen Tarifvertrag nicht erfaßt wurde. Ob derartige Fallgestaltungen, die sich durch die zunehmende europäische Verflechtung öfter stellen können, möglicherweise auch durch Heranziehung vergleichbarer inländischer Tarifverträge zu lösen wären, kann hier dahinstehen.

Das LSG wird daher die bisherige Tätigkeit des Kläges als Kraftfahrer unter Zugrundelegung der dargelegten Grundsätze in das Mehrstufenschema einzuordnen und zu prüfen haben, ob es Tätigkeiten gibt, auf die der Kläger zumutbar verweisbar ist. Dabei ist zu beachten, daß die gleichen Grundsätze, die für die Bewertung des bisher ausgeübten Berufes (Ausgangsberufes) gelten, auch für den Verweisungsberuf Bedeutung haben. Auch sein Wert und seine Zumutbarkeit bestimmen sich nach den dargelegten Grundsätzen (vgl hierzu das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des Senats vom heutigen Tage in der Sache 5 RJ 34/90).

Das LSG wird auch über die Kosten der Revisionsinstanz zu befinden haben.

 

Fundstellen

NZA 1992, 392

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