Entscheidungsstichwort (Thema)

Versäumung mündlicher Verhandlung. Ladung im Wege der Ersatzzustellung. Ortsabwesenheit. Verletzung rechtlichen Gehörs

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen an die Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs, wenn geltend gemacht wird, die Terminsladung wegen Ortsabwesenheit nicht rechtzeitig erhalten und deshalb die mündliche Verhandlung unverschuldet versäumt zu haben.

 

Orientierungssatz

§ 67 SGG ermöglicht Wiedereinsetzung nur, wenn eine gesetzliche Verfahrensfrist versäumt ist, nicht wenn ein vom Gericht festgesetzter Verhandlungstermin nicht wahrgenommen wurde. Eine entsprechende Anwendung verbietet sich auch wegen der Formen, die zur Wiedereinsetzung einzuhalten sind; denn der Beteiligte, der einen gerichtlichen Verhandlungstermin versäumt hat, kann nicht, wie § 67 Abs 2 S 3 SGG dies voraussetzt, in der Wiedereinsetzungsfrist die versäumte Rechtshandlung beliebig nachholen.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 2 S. 3, §§ 62, 67 Abs. 1; GG Art 103 Abs. 1; SGG § 110 Abs. 1, § 67 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

SG Koblenz (Entscheidung vom 28.11.1990; Aktenzeichen S 9 Ar 86/90)

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 22.03.1991; Aktenzeichen L 6 Ar 1/91)

 

Gründe

Die allein auf Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) gestützte Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig. Entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG ist in der Begründung der Beschwerde ein Verfahrensmangel nicht aufgezeigt worden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts (SG) als unzulässig verworfen. Es hat angenommen, die Berufung unterfalle dem Berufungsausschluß des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG, weil sie den Eintritt einer zwölfwöchigen Sperrzeit in bezug auf Arbeitslosengeld betreffe. Außerdem sei die Berufung nach § 147 SGG unzulässig, weil sie den Beginn der Leistung betreffe. § 150 SGG greife nicht Platz; einen Verfahrensmangel des SG, der auch tatsächlich vorliege, habe der Kläger nicht gerügt (§ 150 Nr 2 SGG). Dagegen richten sich die Angriffe des Klägers. Er meint, das LSG habe seine Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, weil das SG ihm kein rechtliches Gehör gewährt habe.

Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, daß ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung des LSG beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), ist in der Begründung der Beschwerde der Verfahrensmangel zu bezeichnen (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG). Hierzu müssen, wie bei einer Verfahrensrüge innerhalb einer zugelassenen Revision, die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert so dargetan werden, daß das Revisionsgericht allein anhand der Beschwerdebegründung sich ein Urteil darüber zu bilden vermag, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14). Nach § 150 Nr 2 SGG ist die Berufung ungeachtet der Berufungsausschlüsse nach §§ 144 bis 149 SGG zulässig, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird. Vorausgesetzt wird hiernach die Rüge eines Verfahrensmangels vor dem LSG und darüber hinaus, daß das Verfahren vor dem SG auch tatsächlich an diesem Mangel litt. Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, das LSG hätte kein Prozeßurteil erlassen dürfen, sondern im Hinblick auf § 150 Nr 2 SGG eine Sachentscheidung treffen müssen, so ist in der Beschwerdebegründung darzulegen, daß beide Voraussetzungen der genannten Vorschrift erfüllt sind (BSG SozR 1500 § 160a Nr 55). Dem Beschwerdevorbringen kann zwar entnommen werden, daß der Kläger vor dem LSG geltend gemacht hat, daß das SG in seiner Abwesenheit entschieden hat, obwohl er wegen berufsbedingter Abwesenheit von zu Hause die beim Postamt niedergelegte Ladung zur Verhandlung vor dem SG erst nach dem Termin habe abholen können. Ein Grund für das LSG, anstelle durch Prozeßurteil in der Sache zu entscheiden, insbesondere eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch das SG, ergibt sich hieraus jedoch noch nicht.

Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 Grundgesetz, § 62 SGG) gebietet, dem an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zu dem der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalt vor Erlaß der Entscheidung zu äußern. Dies muß zwar nicht notwendig in einer mündlichen Verhandlung geschehen; dem Anhörungsgebot kann grundsätzlich auch anders, zB in einem schriftlichen Verfahren, entsprochen werden (so ausdrücklich § 62 SGG; vgl BVerfGE 9, 231, 236; BVerwGE 57, 272). Ist hingegen - wie im sozialgerichtlichen Klageverfahren- eine Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung vorgesehen (§ 124 Abs 1 SGG), muß den Beteiligten unabhängig davon, ob sie die Möglichkeit zur schriftlichen Vorbereitung des Verfahrens genutzt haben, Gelegenheit gegeben werden, ihren Standpunkt in einer mündlichen Verhandlung darzulegen (BVerwG Buchholz 310 § 108 VwGO Nr 140). Etwas anderes gilt nur, wenn die Beteiligten sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 SGG). Ist das nicht geschehen, wird den aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör folgenden Verfahrensanforderungen im sozialgerichtlichen Verfahren in der Regel dadurch genügt, daß das Gericht mündliche Verhandlung anberaumt, der Beteiligte bzw sein Prozeßbevollmächtigter ordnungsgemäß geladen und die mündliche Verhandlung zu dem festgesetzten Zeitpunkt eröffnet wird (vgl BVerwG Buchholz 310 § 103 VwGO Nr 6 und § 108 VwGO Nrn 107 und 140). Es ist Sache jedes Beteiligten, von der - ordnungsgemäßen - Ladung Kenntnis zu nehmen und sich so einzurichten, daß er zu dem Termin erscheinen kann (BVerwG Buchholz 310 § 103 VwGO Nr 6). Weil dem Beteiligten schon mit der ordnungsgemäßen Ladung Gelegenheit zur Äußerung in einer mündlichen Verhandlung gegeben ist, räumt das Gesetz ohne Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dem Gericht die Möglichkeit ein, für den Fall, daß keiner der Beteiligten erscheint oder beim Ausbleiben von Beteiligten die erschienenen Beteiligten dies beantragen, nach Lage der Akten zu entscheiden, sofern in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 126 SGG). Statt der Entscheidung nach Lage der Akten kann auch die mündliche Verhandlung durchgeführt und aufgrund dieser "einseitigen" Verhandlung entschieden werden (BSG SozR Nr 5 zu § 110 SGG und Nr 1 zu § 126 SGG), vorausgesetzt allerdings, daß die Ladung (auch) auf diese Möglichkeit hingewiesen hat (§ 110 Abs 1 Satz 2 SGG). Nimmt ein Beteiligter den Termin nicht wahr, kann er sich im allgemeinen auf eine Verletzung des rechtlichen Gehörs nicht berufen (BVerwG Buchholz 310 § 108 Nr 140). Insbesondere liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs nicht vor, wenn der Beteiligte den Termin zur mündlichen Verhandlung nicht wahrgenommen hat, weil er die durch Niederlegung beim Postamt ordnungsgemäß zugestellte Terminsladung nicht vor dem Termin abgeholt hat (BSG SozR Nr 7 zu § 110 SGG). Daß dem SG ein Verfahrensmangel unterlaufen ist, weil die Ladung nicht ordnungsgemäß war oder einen der erforderlichen Hinweise entbehrte, und das LSG dies - trotz ordnungsgemäßer Rüge - nicht erkannt hätte, macht der Kläger nicht geltend.

Nun muß das Gericht, wenn ein Beteiligter zur mündlichen Verhandlung nicht erscheint, die mündliche Verhandlung nicht durchführen bzw nach Lage der Akten entscheiden, auch wenn die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Es kann auch vertagen. Dafür, daß das SG von dem ihm insoweit zustehenden Ermessen einen fehlerhaften Gebrauch gemacht hätte, hat die Beschwerde nichts vorgetragen. In Sonderheit ergibt die Beschwerde nicht, daß sich dem SG aufdrängen mußte, daß der Kläger, wie die Beschwerde wohl meint, wegen beruflicher Abwesenheit ohne Verschulden verhindert war, vor dem Termin von der Terminsladung Kenntnis zu nehmen.

Zu Unrecht meint der Kläger, gegen die Versäumung des Verhandlungstermins habe ihm nach § 233 Zivilprozeßordnung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Die genannte Vorschrift findet im sozialgerichtlichen Verfahren keine Anwendung; die Wiedereinsetzung in diesem Verfahren richtet sich nach § 67 SGG. Diese Vorschrift ermöglicht Wiedereinsetzung nur, wenn eine gesetzliche Verfahrensfrist versäumt ist, nicht wenn ein vom Gericht festgesetzter Verhandlungstermin nicht wahrgenommen wurde. Eine entsprechende Anwendung auf Fälle vorliegender Art verbietet sich auch wegen der Formen, die zur Wiedereinsetzung einzuhalten sind; denn der Beteiligte, der einen gerichtlichen Verhandlungstermin versäumt hat, kann nicht, wie § 67 Abs 2 Satz 3 SGG dies voraussetzt, in der Wiedereinsetzungsfrist die versäumte Rechtshandlung beliebig nachholen.

Eine andere Frage ist allerdings, ob dann, wenn ein Beteiligter ohne Verschulden verhindert war, an der mündlichen Verhandlung teilzunehmen, ein aufgrund dieser Verhandlung ergangenes Urteil als auf der Verletzung des Grundsatzes des rechtlichen Gehörs beruhend auch dann anzusehen ist, wenn das Gericht prozeßordnungsgemäß verfahren ist. Auch wenn dies allgemein mit der Folge zu bejahen wäre, daß eine an sich ausgeschlossene Berufung nach § 150 Nr 2 SGG zulässig ist, wenn der Berufungskläger geltend macht, ohne Verschulden an der Teilnahme an der mündlichen Verhandlung vor dem SG verhindert gewesen zu sein und dies auch tatsächlich der Fall war, ist die Beschwerde hier unzulässig; denn aus der Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, daß die Versäumung des Termins vor dem SG unverschuldet war.

Allein deshalb, weil der Kläger in der Zeit zwischen Zustellung der Ladung und Termin in seine Wohnung nicht zurückgekehrt ist, war die Terminsversäumung noch nicht unverschuldet. Ohne Verschulden handelt nämlich nur, wer diejenige Sorgfalt beachtet, die für einen gewissenhaften und seine Rechte und Pflichten sachgemäß wahrnehmenden Prozeßführenden geboten ist und ihm zugemutet werden kann. Grundsätzlich gehört es aber zu den Sorgfaltspflichten eines Prozeßbeteiligten, sicherzustellen, daß er für das Gericht erreichbar ist (BVerwG Buchholz 340 § 3 VwZG Nr 9). Zwar braucht, wer eine Wohnung hat, die er auch ständig benutzt, wenn er vorübergehend und nur kurzfristig abwesend ist, im allgemeinen für mögliche Zustellungen während der Abwesenheit keine besonderen Vorkehrungen zu treffen (vgl BVerfGE 41, 332, 335 mwN für die Zustellung von Bußgeldbescheiden und Strafbefehlen). Anderes gilt indes bei voraussehbarer längerer Ortsabwesenheit und, wenn die Anwesenheit in der eigenen Wohnung nur die Ausnahme ist. Denn nur unter der Voraussetzung, daß die Anwesenheit die Regel und die Abwesenheit die Ausnahme bildet, ist es dem Bürger nicht zuzumuten, im Hinblick auf mögliche, aber eben doch ungewisse Zustellungen während der Abwesenheit "besondere" Vorkehrungen zu treffen (BVerfGE 41, 332, 336). Es ist hier nicht zu entscheiden, welche Angaben ein Kläger beim LSG machen muß, um eine entsprechende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör zu rügen. Eine Verletzung dieses Anspruchs durch eine Entscheidung aufgrund einer Verhandlung, an der der Betroffene nicht teilgenommen hat, wird indes nicht schon in den sie begründenden Tatsachen substantiiert durch den Vortrag dargetan, daß und aus welchen Gründen der Betroffene von einer Terminsladung erst nach dem Termin Kenntnis erhalten hat. Vielmehr müssen auch solche Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, daß der Betroffene für Zustellungen wegen seiner Abwesenheit keine oder keine weitere Vorsorge treffen mußte, um ggf von Zustellungen während der Abwesenheit unterrichtet zu werden. Solche Tatsachen, die letztlich erst die Verletzung des rechtlichen Gehörs begründen, sind hier jedoch nicht vorgetragen worden, obwohl Veranlassung dafür bestand. Denn der - alleinstehende - Kläger war seinerzeit nicht nur außerhalb seines Wohnortes tätig, sondern zudem noch Fernfahrer und als solcher im Ausland eingesetzt. Er kann sich daher nicht von vornherein darauf berufen, daß die Abwesenheit von seiner Wohnung nur die Ausnahme bildet, und hätte daher in der Beschwerdebegründung Tatsachen angeben müssen, denen zufolge er seinen prozessualen Sorgfaltspflichten nachgekommen ist.

Entspricht die Begründung der Beschwerde somit nicht den gesetzlichen Anforderungen, muß die Beschwerde in entsprechender Anwendung des § 169 SGG als unzulässig verworfen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174452

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