Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. rechtliches Gehör. persönliches Erscheinen

 

Orientierungssatz

1. § 62 SGG verlangt nicht, dass das Gericht dafür Sorge zu tragen hat (etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrkosten), dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn er im Verfahren durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist (vgl BSG vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B).

2. Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden (§ 153, § 111 Abs 1 S 1 SGG). Hierauf besteht kein Anspruch des Beteiligten.

 

Normenkette

SGG §§ 62, 111 Abs. 1 S. 1, § 153 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 160a Abs. 2 S. 3; GG Art. 103 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.01.2008; Aktenzeichen L 18 R 55/07)

SG Düsseldorf (Urteil vom 02.02.2007; Aktenzeichen S 53 R 18/06)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Januar 2008 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Mit Urteil vom 15.1.2008 hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG) einen Anspruch des Klägers auf Regelaltersrente - unter Zugrundelegung einer Beschäftigung im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) - verneint: Die Gesamtwürdigung aller Umstände der Arbeit des Klägers während des Aufenthalts im Ghetto Sandomierz vom Mai 1941 bis Mai 1942 als Lastenträger und im Säuberungskommando spreche für das Vorliegen einer Beschäftigung, die nicht aus eigenem Willensentschluss zu Stande gekommen sei. Zwar bedürfe es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14.12.2006 (offenbar gemeint: B 4 R 29/06 R, zur Veröffentlichung in BSGE vorgesehen = SozR 4-5075 § 1 Nr 3) eines Beschäftigungs- oder Arbeitsverhältnisses nicht; nach der Rechtsprechung des BSG müsse aber zumindest erkennbar werden, für wen, dh welchen Arbeitgeber, und an welcher Arbeitsstätte die Beschäftigung bzw der "Einsatz" erfolgt sei. Der Kläger habe allerdings an keiner Stelle kundgetan, für wen (Arbeitgeber) und an welcher möglichen Arbeitsstätte er diese Arbeiten verrichtet habe. Das Merkmal Freiwilligkeit im Sinne eines eigenen Willensentschlusses liege vor, wenn die Arbeit vor dem Hintergrund der wirklichen Lebenslage in einem solchen Ghetto jedenfalls auch noch auf einer, wenn auch auf das Elementarste reduzierten Wahl zwischen wenigstens zwei Verhaltensmöglichkeiten beruht habe, solange die neben der Möglichkeit der Arbeitsaufnahme gegeben gewesene Alternative nicht in der Unterwerfung unter die absolute Gewaltausübung des "Weisungsgebers" bestanden habe (Bezug auf BSG vom 14.12.2006, aaO). Dem widerspreche an sich schon die in einem "Kommando" verrichtete Tätigkeit. Selbst unterstellt, die "Zuweisung" der Arbeit sei im Sinne einer "Vermittlung" durch das Arbeitsamt zu verstehen, treffe das noch keine Aussage über das Zustandekommen bzw die Durchführung der Arbeit. Dies gelte insbesondere für die Frage, ob der Kläger noch eine "gewisse Dispositionsbefugnis" gehabt habe, die Annahme oder die Ausführung der Tätigkeiten abzulehnen, ohne sich der Gefahr gewaltsamer Aktionen gegen Leib und Leben auszusetzen. So wie der Kläger im Entschädigungsverfahren und vor der Claims Conference die Umstände beschrieben habe, ließen sich allerdings Merkmale einer solchen Dispositionsfreiheit nicht mehr feststellen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil hat der Kläger beim BSG Beschwerde eingelegt. Er beruft sich auf das Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie von grundsätzlicher Bedeutung und macht darüber hinaus sinngemäß Divergenz geltend.

II. 1. Soweit die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers die Darlegungserfordernisse hinsichtlich der Rüge des Verfahrensfehlers der Verletzung rechtlichen Gehörs wegen einer Überraschungsentscheidung des LSG erfüllt, ist sie nicht begründet.

Der Kläger sieht eine Verletzung rechtlichen Gehörs darin, dass das LSG in seinem Urteil ausgeführt habe, er habe durch seine Arbeiten in einem Säuberungskommando oder als Lastenträger keine Beschäftigung iS des § 1 ZRBG ausgeübt, da er einem konkreten Arbeits- und Weisungsgeber nicht unterstellt gewesen sei. Dies sei eine Überraschungsentscheidung, mit der er nicht habe rechnen müssen, und er habe deshalb keine Möglichkeit gehabt, darauf zu erwidern.

Eine Überraschungsentscheidung und damit eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫; Art 103 Abs 1 des Grundgesetzes) liegt vor, wenn das Gericht seine Entscheidung auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hat, mit der Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahren nicht rechnen musste (BSG vom 11.10.2006 - B 9a VJ 4/06 B, Juris; BFH vom 22.4.2008 - X S 3/08, Juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 62 RdNr 8a, 8b mwN). Es kann dahingestellt bleiben, ob die vom LSG wiedergegebenen Abgrenzungskriterien zwischen Beschäftigung und Zwangsarbeit - nämlich dass die Feststellung einer Beschäftigung die Feststellung eines bestimmten "Arbeitgebers" und einer bestimmten "Arbeitsstätte" voraussetze - neuartig und überraschend, insbesondere von der bisherigen BSG-Rechtsprechung nicht gedeckt sind.

Ein Verfahrensfehler stellt nur dann einen Revisionszulassungsgrund dar, wenn die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG). Daran fehlt es hier. Denn das LSG hat das Fehlen eines freiwilligen Beschäftigungsverhältnisses auch aus weiteren Gründen verneint. Es hat Zwangsarbeit des Klägers auch deshalb angenommen, weil er nach seinen Angaben im Entschädigungsverfahren und vor der Claims Conference zu den fraglichen Tätigkeiten willkürlich herangezogen worden sei, ohne sich dem entziehen zu können. So habe er nach seiner Darstellung in einem Arbeits"kommando" gearbeitet, was an sich die Freiwilligkeit bereits ausschließe. Auch im Übrigen habe der Kläger Umstände beschrieben, die Merkmale der geforderten Dispositionsfreiheit nicht mehr aufwiesen.

2. Die weiteren Rügen der grundsätzlichen Bedeutung, sinngemäß der Divergenz und sonstiger Verfahrensfehler sind schon deshalb nicht geeignet die Revisionsinstanz zu eröffnen, weil sie den formellen Anforderungen an eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht gerecht werden.

a) Die vom Kläger behauptete grundsätzliche Bedeutung (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die - über den Einzelfall hinaus - aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese Rechtsfragen noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine derartige Klärung erwarten lässt (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 17 und § 160a Nr 7, 11, 13, 31, 39, 59, 65). Um seiner Darlegungspflicht (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) zu genügen, muss ein Beschwerdeführer mithin Folgendes aufzeigen: (1) Eine konkrete Rechtsfrage, (2) ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, (3) ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie (4) die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (so genannte Breitenwirkung). Diesen Anforderungen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.

Der Kläger sieht folgende Fragen als grundsätzlich bedeutsam an:

1) "Erfüllt die Arbeitsleistung in einem Säuberungskommando oder als Lastenträger des Judenrates die Voraussetzungen einer Beschäftigung im Sinne von § 1 ZRBG?"

2) "Liegt die Beweislast für das Vorhandensein von 'Zwangsarbeit' bei dem Versicherungsträger oder hat der Ghetto-Arbeiter zu beweisen, das keine Zwangsarbeit vorgelegen hat?"

Bei Rechtsfrage zu 1) hat der Kläger die Entscheidungserheblichkeit nicht dargelegt. Denn der Kläger trägt gleichzeitig vor, dass das LSG ua festgestellt habe, es sei nicht erkennbar, für welchen Arbeitgeber eine Beschäftigung erfolgt sei (wie dieser Umstand rechtlich zu würdigen ist - s hierzu unter 1 ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich). Damit aber kann die Frage, ob die Arbeitsleistung in einem Säuberungskommando oder als Lastenträger "des Judenrates" bestimmte Voraussetzungen erfülle, auf der Grundlage der das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens sein.

Auch hinsichtlich der Rechtsfrage zu 2) fehlt es auf der Grundlage des Vortrags in der Beschwerdebegründung an der Klärungsfähigkeit. Die Beschwerdebegründung führt aus, nach der Auffassung des 4. Senats des BSG, der zu folgen sei, treffe den Verfolgten nicht die Darlegungs- und Beweislast, dass es sich um keine Zwangsarbeit gehandelt habe, wenn er die tatsächlichen Voraussetzungen für eine "nichtselbständige Arbeit" aus "eigenem Willensentschluss" glaubhaft gemacht habe. Nach dem Vortrag des Klägers ist das LSG aber in der Beweiswürdigung davon ausgegangen, dass kein eigener Willensentschluss in diesem Sinne vorliege. Der Kläger legt aber nicht dar, wie unter diesen Voraussetzungen die Frage der Beweislastumkehr entscheidungserheblich werden kann.

b) Der Kläger rügt vielmehr sinngemäß ein Abweichen des LSG von dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG). Hinsichtlich einer (hier: konkludent behaupteten) Divergenz genügt eine Beschwerdebegründung den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG an die Bezeichnungspflicht jedoch nur dann, wenn die Entscheidung, von der das Urteil bzw der Beschluss des LSG abweichen soll, genau bezeichnet und deutlich gemacht wird, worin die Abweichung zu sehen sein soll. Dazu muss der Beschwerdeführer darlegen, zu welcher konkreten Rechtsfrage eine die Berufungsentscheidung tragende Abweichung in deren rechtlichen Ausführungen enthalten sein soll. Er muss mithin einen abstrakten Rechtssatz der vorinstanzlichen Entscheidung und einen abstrakten Rechtssatz aus dem höchstrichterlichen Urteil so bezeichnen, dass die Divergenz erkennbar wird. Nicht hingegen reicht es aus, auf eine bestimmte höchstrichterliche Entscheidung mit der Behauptung hinzuweisen, das angegriffene Urteil bzw der angegriffene Beschluss weiche hiervon ab. Schließlich ist darzulegen, dass die berufungsgerichtliche Entscheidung auf der gerügten Divergenz beruhe (BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29). Auch diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Der Kläger trägt nur vor, das Urteil des LSG entspreche nicht den Kriterien, die das BSG aufgestellt habe; widersprechende Rechtssätze des BSG einer- und des LSG andererseits arbeitet er jedoch nicht heraus.

c) Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), müssen für die Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 34, 36). Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung des Urteils besteht (vgl BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 36). Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel allerdings nicht auf eine Verletzung der §§ 109 und 128 Abs 1 Satz 1 SGG und auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.

Grundlegende Voraussetzung für die ordnungsgemäße Rüge eines Verstoßes gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) ist mithin die Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist. Der Kläger trägt nur vor, in der Berufungsbegründung vom 27.12.2007 sei auf S 23 unter Nr 10 auf die in erster Instanz gestellten Beweisanträge, die das Sozialgericht unbeachtet gelassen habe, verwiesen worden; diese Beweisanträge seien ausdrücklich wiederholt worden, insbesondere der Antrag auf persönliche Anhörung des Klägers (Beschwerdebegründung S 20, 3. Absatz). Es kann dahingestellt bleiben, ob damit ausreichend konkrete Beweisanträge bezeichnet worden sind. Jedenfalls hat der Kläger nicht dargetan, dass er diese Anträge bis zur (letzten) mündlichen Verhandlung aufrechterhalten habe. Dies ist aber zumindest bei - wie hier - anwaltlicher Vertretung erforderlich (BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 29 und SozR 4-1500 § 160 Nr 1 mwN; stRspr).

Auch eine Verletzung seines rechtlichen Gehörs dadurch, dass der Kläger nicht persönlich angehört worden sei, ist nicht dargelegt. Das LSG hat ihn nach seinem Vortrag nicht - etwa durch Ablehnung eines begründeten Vertagungsantrags - gehindert, sich durch persönliche Anwesenheit bei der Berufungsverhandlung Gehör zu verschaffen. § 62 SGG verlangt nicht, dass das Gericht dafür Sorge zu tragen hat (etwa durch Anordnung des persönlichen Erscheinens unter Übernahme der Fahrkosten), dass jeder Beteiligte auch persönlich vor dem Gericht auftreten kann (Littmann in Lüdtke, HandKomm zum SGG, 2. Aufl 2006, § 62 RdNr 6). Dies gilt insbesondere dann, wenn er im Verfahren durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten ist (Senatsbeschluss vom 14.11.2005 - B 13 RJ 245/05 B, Juris). Vielmehr steht die Anordnung des persönlichen Erscheinens eines Beteiligten im Ermessen des Vorsitzenden (§ 153, § 111 Abs 1 Satz 1 SGG). Hierauf besteht kein Anspruch des Beteiligten (Roller in Lüdtke, HandKomm zum SGG, aaO, § 111 RdNr 3).

d) Soweit der Kläger geltend macht, das LSG habe die vom BSG aufgezeigten rechtlichen Gesichtspunkte verkannt, rügt er in Wirklichkeit die seiner Ansicht nach vorliegende Unrichtigkeit des Berufungsurteils. Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, die Revisionsinstanz zu eröffnen. Zulässiger Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde ist nicht, ob das Berufungsgericht in der Sache richtig entschieden hat (BSG SozR 1500 § 160a Nr 7).

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2391788

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