Entscheidungsstichwort (Thema)

Rückwirkung eines Einigungsstellenspruchs

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Eine die Arbeitnehmer belastende Betriebsvereinbarung kann sich ausnahmsweise rückwirkende Kraft beilegen, wenn die betroffenen Arbeitnehmer mit einer rückwirkend belastenden Regelung rechnen mußten und sich hierauf einstellen konnten. Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Betriebsvereinbarung von den Betriebspartnern abgeschlossen wird oder durch Spruch der Einigungsstelle zustande kommt.

2. Eine auf den Zeitpunkt einer Tariferhöhung zurückwirkende Betriebsvereinbarung über die Anrechnung übertariflicher Zulagen kommt in Betracht, wenn der Arbeitgeber zunächst mitbestimmungsfrei das Zulagenvolumen und - unter Beibehaltung der bisherigen Verteilungsrelationen - auch die einzelnen Zulagen kürzt, zugleich aber bekanntgibt, daß er eine Änderung der Verteilungsrelationen erreichen will, und dem Betriebsrat eine entsprechende rückwirkende Betriebsvereinbarung vorschlägt.

3. Soll eine belastende Betriebsvereinbarung rückwirkend in Kraft treten, so muß das in ihr deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Im Zweifel ist eine Rückwirkung nicht gewollt.

4. Ob sogar die Unwirksamkeit einer zunächst mitbestimmungswidrig vorgenommenen Anrechnung nachträglich durch eine rückwirkende Betriebsvereinbarung geheilt werden kann, erscheint dem Senat zweifelhaft. Die Frage bleibt jedoch unentschieden.

 

Normenkette

BetrVG §§ 76, 87 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Hamburg (Urteil vom 18.10.1994; Aktenzeichen 2 Sa 108/93)

ArbG Hamburg (Entscheidung vom 28.10.1993; Aktenzeichen 4 Ca 331/93)

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob die Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen, die zunächst ohne Zustimmung des Betriebsrats vorgenommen, später aber von einer Einigungsstelle gebilligt wurde, wirksam war, und - wenn das nicht der Fall sein sollte - welche Ansprüche der Kläger gegen die Beklagte hat.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Projektingenieur beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis sind kraft beiderseitiger Verbandsmitgliedschaft die zwischen Nordmetall und der IG Metall für die Metallindustrie in Hamburg und Umgebung abgeschlossenen Tarifverträge anwendbar. Dem Betrieb der Beklagten gehören etwa 60 Arbeitnehmer an. Es besteht ein Betriebsrat. Der Kläger bezog bis zum 31. Mai 1991 ein Gehalt von insgesamt 5.320,00 DM, das sich aus einem Tarifgehalt von 4.538,00 DM und einer übertariflichen Zulage von 782,00 DM zusammensetzte. Auch anderen Arbeitnehmern zahlte die Beklagte übertarifliche Zulagen.

Zum 1. Juni 1991 wurden die Tarifgehälter erhöht, dasjenige des Klägers auf 4.842,00 DM. Durch Anrechnung auf die Tariferhöhung verminderte die Beklagte die übertarifliche Zulage des Klägers auf 518,00 DM, so daß sich sein Gehalt insgesamt nur um 40,00 DM auf 5.360,00 DM erhöhte. Auch bei anderen Arbeitnehmern verrechnete die Beklagte die Tariferhöhung mit übertariflichen Zulagen. Dabei wurde allerdings weder das Zulagenvolumen voll aufgezehrt, noch wurde die Tariferhöhung vollständig und gleichmäßig angerechnet. Die Anrechnungsbeträge lagen vielmehr zwischen 0 und 300,00 DM monatlich. Dadurch verminderte sich das Gesamtvolumen der übertariflichen Zulagen um 16,6 % von 25.166,00 DM im Mai auf 20.976,00 DM im Juni 1991. Der Betriebsrat stimmte der Anrechnung nicht zu. Durch Spruch vom 20. Dezember 1993 ersetzte die Einigungsstelle die Zustimmung des Betriebsrats "zur Anrechnung der Tariflohnerhöhung 1991 auf die übertariflichen Zulagen, wie sie von der Firma M vorgenommen ... worden ist".

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, die Anrechnung sei für die Zeit vor dem Spruch der Einigungsstelle insgesamt unwirksam gewesen, da sie mitbestimmungswidrig vorgenommen worden sei. Die Einigungsstelle habe die Zustimmung des Betriebsrats nicht rückwirkend ersetzen können. Eine Verminderung um 16,6 % wäre nur dann mitbestimmungsfrei gewesen, wenn sie bei allen Arbeitnehmern gleichmäßig erfolgt wäre. Das sei aber nicht geschehen. Die Anrechnungsentscheidung der Beklagten könne auch nicht wegen ihrer Unwirksamkeit dahin umgedeutet werden, daß sie auf 16,6 % der Zulage des Klägers beschränkt sei. Der Sanktionscharakter der Unwirksamkeit würde sonst unterlaufen. Im übrigen könnte auch eine solche Umdeutung den Wirksamkeitsmangel nicht beheben, weil sie nichts daran ändern würde, daß die Beklagte bei einem Teil der Arbeitnehmer die Zulage um weniger als 16,6 % oder gar nicht gekürzt habe. Der Kläger hat geltend gemacht, daß ihm wegen der Unwirksamkeit der Anrechnung für die Zeit vom 1. Juni 1991 bis zum 31. Juli 1993 unter Berücksichtigung der Jahressonderzahlungen und des Urlaubsgeldes noch übertarifliche Zulagen in der rechnerisch unstreitigen Höhe von insgesamt 7.938,48 DM zustünden.

Der Kläger hat zuletzt beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.938,48 DM

brutto zuzüglich 4 % Zinsen seit Rechtshängigkeit

zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Nach ihrer Meinung ist die Anrechnung wirksam, nachdem die Einigungsstelle die Zustimmung des Betriebsrats ersetzt hat. Die Zustimmung müsse auch rückwirkend ersetzt werden können, da anderenfalls dem Arbeitgeber wegen des Zeitaufwandes für die Verhandlung mit dem Betriebsrat und ein Einigungsstellenverfahren die Möglichkeit genommen würde, die Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen zeitnah durchzusetzen. Selbst wenn der Einigungsstellenspruch auf den Zeitraum, für den der Kläger Gehaltsansprüche geltend macht, nicht zurückwirken sollte, sei die Klage jedenfalls mit dem Betrag unbegründet, der 4.023,36 DM übersteige. Die Beklagte habe die übertarifliche Zulage des Klägers mitbestimmungsfrei zumindest um 16,6 % kürzen können, weil sie das Gesamtvolumen der Zulagen um diesen Prozentsatz vermindert habe. Sollte die tatsächlich vorgenommene Anrechnung wegen Verletzung des Mitbestimmungsrechts unwirksam gewesen sein, so sei sie in eine auf 16,6 % der Zulage beschränkte Anrechnung umzudeuten.

Das Arbeitsgericht hat dem Zahlungsantrag des Klägers stattgegeben und einen ursprünglich daneben verfolgten Feststellungsantrag abgewiesen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht die Klage abgewiesen, soweit der vom Kläger begehrte Betrag 4.023,36 DM übersteigt. Mit ihren vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revisionen verfolgen der Kläger seinen Klageantrag in voller Höhe und die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet, diejenige der Beklagten unbegründet. Der Kläger hat für die Zeit vom 1. Juni 1991 bis zum 31. Juli 1993 Anspruch auf die übertarifliche Zulage in der bis zum 31. Mai 1991 gezahlten Höhe, weil die Anrechnung der Zulage auf die Tariferhöhung in dieser Zeit wegen fehlender Zustimmung des Betriebsrats insgesamt unwirksam war.

I. Die Anrechnung war nach § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG mitbestimmungspflichtig.

Nach den Grundsätzen, die der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts zu dieser Vorschrift aufgestellt hat, besteht das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats bei der Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen dann, wenn sich dadurch die bisher bestehenden Verteilungsrelationen ändern, also die verschiedenen Zulagenbeträge im Verhältnis zueinander. Weitere Voraussetzung ist, daß für die Neuregelung innerhalb des vom Arbeitgeber mitbestimmungsfrei vorgegebenen Dotierungsrahmens ein Gestaltungsspielraum besteht. Deshalb ist die Anrechnung mitbestimmungsfrei, wenn sie das Zulagenvolumen völlig aufzehrt. Dasselbe gilt, wenn die Tariferhöhung im Rahmen des rechtlich und tatsächlich Möglichen vollständig und gleichmäßig auf die übertariflichen Zulagen angerechnet wird (BAGE 69, 134, 164 ff. = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu C III 4 - 6 der Gründe).

Die Voraussetzungen des Mitbestimmungsrechts lagen hier vor. Die bisherigen Verteilungsrelationen haben sich durch die Anrechnung geändert, weil die Beklagte die in ihrem Betrieb gezahlten übertariflichen Zulagen nicht bei allen Arbeitnehmern gekürzt und überdies die Kürzungen in unterschiedlicher Höhe vorgenommen hat. Auch blieb innerhalb der von der Beklagten mitbestimmungsfrei vorgegebenen Entscheidung, den Dotierungsrahmen für die Zulagen um 16,6 % zu kürzen, noch ein Gestaltungsspielraum für unterschiedliche Regelungen. Durch die Anrechnung wurde weder das Zulagenvolumen völlig aufgezehrt noch die Tariferhöhung vollständig und gleichmäßig auf die Zulagen angerechnet. Darüber, daß die Anrechnung mitbestimmungspflichtig war, besteht zwischen den Parteien auch kein Streit.

II. Der Betriebsrat hat der Anrechnung nicht zugestimmt. Dies führt zu ihrer Unwirksamkeit (BAGE 69, 134, 170 = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu D II der Gründe). Die Einigungsstelle hat allerdings die Zustimmung des Betriebsrats ersetzt. Die Ersetzung ist hier indessen ohne Bedeutung, denn sie erfaßt nicht den Zeitraum, für den der Kläger Gehaltsansprüche geltend macht. Der Einigungsstellenspruch erging erst später und wirkt nicht zurück.

1. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, daß die Einigungsstelle ihrem Spruch keine Rückwirkung beimessen konnte. Das trifft nicht uneingeschränkt zu.

a) Das Landesarbeitsgericht bezieht sich auf die "Theorie der Wirksamkeitsvoraussetzung", nach der der Arbeitgeber in den Fällen des § 87 Abs. 1 BetrVG keine wirksamen Maßnahmen ohne die - erforderlichenfalls von der Einigungsstelle ersetzte - Zustimmung des Betriebsrats vornehmen kann. Ein den Arbeitnehmer belastendes Rechtsgeschäft, das der Arbeitgeber unter Verletzung des Mitbestimmungsrechts vorgenommen hat, ist im Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer unwirksam. Diese individualrechtliche Wirkung soll verhindern, daß der Arbeitgeber dem betriebsverfassungsrechtlichen Einigungszwang durch Rückgriff auf arbeitsvertragliche Gestaltungsmöglichkeiten ausweicht. Zugleich ist sie eine Sanktion für die Verletzung des Mitbestimmungsrechts. Dieser Sanktion bedarf es auch bei einer mitbestimmungswidrigen Änderung der Verteilungsgrundsätze durch Anrechnung einer Tariferhöhung auf Zulagen (h.M., z. B. BAGE 69, 134, 170 f. ≪unvollständig≫ = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu D der Gründe).

Hieraus wird im Schrifttum geschlossen, daß die spätere Zustimmung des Betriebsrats die Unwirksamkeit nicht rückwirkend heilen könne (Klebe in Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, BetrVG, 4. Aufl., § 87 Rz 13; Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, BetrVG, 17. Aufl., § 87 Rz 25; GK-BetrVG/Wiese, 4. Aufl., § 87 Rz 77; MünchArbR/Matthes, § 322 Rz 17). Folgt man dieser Auffassung, dann kann auch der Beschluß einer Einigungsstelle, der die Zustimmung ersetzt, nicht in die Vergangenheit zurückwirken. Der Einigungsstellenspruch kann als Surrogat seinem betriebsverfassungsrechtlichen Zweck nach nicht weiter reichen als eine vom Betriebsrat selbst erteilte Zustimmung. In diesem Sinne ist möglicherweise auch die im Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts (aaO) enthaltene Aussage zu verstehen, der Arbeitgeber könne eine nicht vollständige Anrechnung, die zu einer Änderung der Verteilungsgrundsätze führt, erst durchführen, wenn er sich mit dem Betriebsrat über neue Verteilungsgrundsätze geeinigt habe oder die Einigung durch den Spruch der Einigungsstelle ersetzt worden sei.

b) Die Beklagte hat hiergegen eingewandt, damit werde dem Arbeitgeber eine Anrechnung, die bereits zum Zeitpunkt der Tariferhöhung wirksam werde, schon aus Zeitgründen praktisch unmöglich gemacht. Die Zustimmung des Betriebsrats zur Anrechnungsentscheidung sei mangels Vorhersehbarkeit des Ergebnisses der Tarifverhandlungen nicht so frühzeitig zu beschaffen, daß das Mitbestimmungsverfahren - erforderlichenfalls unter Einschaltung der Einigungsstelle - mit Sicherheit schon vor dem Zeitpunkt der beabsichtigten Anrechnung abgeschlossen sei. Daher könne der Betriebsrat durch bloße Verweigerung seiner Zustimmung verfehlte Verteilungsgrundsätze, die der Arbeitgeber ändern wolle, noch längere Zeit aufrechterhalten.

Dieser Einwand ist nicht überzeugend. Er übergeht die Möglichkeiten, die dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, um eine auf den Zeitpunkt der Tariferhöhung bezogene Anrechnung übertariflicher Zulagen durchzusetzen, ohne das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats verletzen zu müssen.

Der Arbeitgeber kann zunächst mitbestimmungsfrei das Zulagenvolumen und - unter Beibehaltung der Verteilungsrelationen - auch die einzelnen Zulagen kürzen. Hierauf hat der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts in dem angeführten Beschluß ausdrücklich hingewiesen. Verfährt der Arbeitgeber auf diese Weise, so wird er dadurch nicht gehindert, anschließend eine rückwirkende Änderung der Verteilungsrelationen anzustreben. Er kann dies mit Hilfe einer Betriebsvereinbarung oder auch eines Einigungsstellenspruchs erreichen, wenn er das Entstehen schutzwürdigen Vertrauens der Belegschaft vermeidet.

Nach überwiegender Meinung kann eine Betriebsvereinbarung, die in bereits entstandene Ansprüche der Arbeitnehmer eingreift, unter besonderen Voraussetzungen auch rückwirkend in Kraft gesetzt werden. Die Rückwirkung wird teils entsprechend der Lehre von der Zulässigkeit rückwirkender belastender Gesetze (Berg in Däubler/Kittner/Klebe/Schneider, aaO, § 77 Rz 41; Hess/Schlochauer/Glaubitz, BetrVG, 4. Aufl., § 77 Rz 57; MünchArbR/Matthes, § 319 Rz 30), teils unter Rückgriff auf § 75 BetrVG und § 242 BGB (GK-BetrVG/Kreutz, § 77 Rz 168) dann für möglich gehalten, wenn die betroffenen Arbeitnehmer mit einer rückwirkend belastenden Regelung rechnen mußten und sich hierauf einstellen konnten (gegen jede Zulässigkeit rückwirkend belastender Regelungen Fitting/Auffarth/Kaiser/Heither, aaO, § 77 Rz 38). Auch der Senat hat mehrfach, ohne allerdings zwischen Regelungen zugunsten und solchen zu Lasten der Arbeitnehmer zu unterscheiden, die rückwirkende Inkraftsetzung von Betriebsvereinbarungen anerkannt (BAGE 29, 40, 47 f. = AP Nr. 1 zu § 87 BetrVG 1972 Auszahlung, zu II 4 a der Gründe; BAGE 60, 48, 56 = AP Nr. 10 zu § 81 ArbGG 1979, zu B III 2 der Gründe; Beschluß vom 25. April 1989 - 1 ABR 82/87 - n.v., zu B I 2 der Gründe; zuletzt Beschluß vom 14. Juni 1994 - 1 ABR 63/93 - AP Nr. 69 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu B I der Gründe).

Kündigt der Arbeitgeber schon bei Wirksamwerden der Tariferhöhung eine Anrechnung übertariflicher Zulagen an, die sofort wirksam werden soll, und macht er darüber hinaus die geplante Regelung, durch die sich die Verteilungsgrundsätze ändern, in geeigneter Form bekannt, so wird es im Regelfall zulässig sein, daß eine spätere Betriebsvereinbarung, die dieses Konzept realisiert, auf den Zeitpunkt der Tariferhöhung zurückwirkt. Mit der rückwirkenden Regelung mußten die Arbeitnehmer in diesem Fall rechnen. Insoweit bestehen gegen eine rückwirkende Betriebsvereinbarung auch dann keine Bedenken, wenn sie durch einen Spruch der Einigungsstelle zustande kommt. Das Vertrauen der Arbeitnehmer in den Bestand einer Zulagenregelung ist gegenüber einem rückwirkenden Einigungsstellenspruch nicht in höherem Maße schützenswert als gegenüber einer von Arbeitgeber und Betriebsrat abgeschlossenen Betriebsvereinbarung.

2. Die Beklagte hat die Möglichkeit, die das Betriebsverfassungsrecht bietet, nicht genutzt. Sie hat vielmehr die mitbestimmungspflichtige Anrechnung ohne Zustimmung des Betriebsrats sofort vorgenommen. Ob auch eine solche mitbestimmungswidrige und daher unwirksame Maßnahme des Arbeitgebers durch eine Betriebsvereinbarung - möglicherweise in Form eines Einigungsstellenspruchs - rückwirkend gebilligt und damit geheilt werden kann, erscheint zweifelhaft.

Die Frage bedarf jedoch keiner Entscheidung, weil die Einigungsstelle keine rückwirkende Regelung getroffen hat. Der Spruch enthält zu einer möglichen Rückwirkung keine ausdrückliche Aussage. In den Gründen wird diese Frage nicht erörtert. Für eine rückwirkende Inkraftsetzung könnte allenfalls die im Tenor enthaltene Formulierung sprechen, daß die Zustimmung zur Anrechnung so ersetzt werde, "wie sie von der Firma M vorgenommen... worden ist". Das reicht jedoch nicht aus.

Da eine rückwirkende Betriebsvereinbarung, die die Arbeitnehmer belastet, nur in Ausnahmefällen zulässig ist, kann für den Regelfall nicht davon ausgegangen werden, daß die Einigungsstelle ihrem Spruch rückwirkende Kraft beilegen will. Soll dies ausnahmsweise doch der Fall sein, so muß es deutlich zum Ausdruck gebracht werden. Das kann zum einen dadurch geschehen, daß das rückwirkende Inkrafttreten ausdrücklich angeordnet wird. Zum anderen kann es sich auch aus dem Inhalt der Regelung ergeben, wenn dieser eine rückwirkende Geltung voraussetzt. Das gilt etwa für Bestimmungen darüber, wie die Arbeitnehmer die Beträge erstatten sollen, die sich aufgrund der rückwirkenden Anrechnung nachträglich als rechtsgrundlose Leistungen erweisen. Derartige Bestimmungen sind indessen in dem Spruch nicht einmal ansatzweise enthalten. Es fehlen auch sonst Anhaltspunkte dafür, daß die Einigungsstelle sich mit den Übergangs- und Rückabwicklungsproblemen, die eine rückwirkende Regelung aufwirft, befaßt hätte.

3. Da der Spruch der Einigungsstelle vom 20. Dezember 1993 nicht zurückwirkt, fehlt die Zustimmung des Betriebsrats zur Anrechnung für die Zeit vom 1. Juni 1991 bis zum 31. Juli 1993, für die der Kläger Gehaltsansprüche geltend macht. Insoweit ist und bleibt die Anrechnung unwirksam.

III.1. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts (ebenso LAG Düsseldorf Urteil vom 5. Mai 1993 - 18 (5) Sa 1364/92 - DB 1993, 2602 f.) gilt die Sanktion der Rechtsunwirksamkeit für die Anrechnung in voller Höhe und nicht nur hinsichtlich des Teils, der 16,6 % der Zulage übersteigt. Zu Unrecht beruft sich das Landesarbeitsgericht darauf, daß die Beklagte das Gesamtvolumen der übertariflichen Zulage mitbestimmungsfrei begrenzen und infolgedessen auch eine Anrechnung um 16,6 % vorgeben könne. Zwar trifft es zu, daß bei der Entscheidung über eine Änderung des Dotierungsrahmens kein Mitbestimmungsrecht besteht; aber die zur Umsetzung dieser Entscheidung erforderliche Anrechnung einer Tariferhöhung auf übertarifliche Zulagen kann der Arbeitgeber nach den vom Großen Senat des Bundesarbeitsgerichts aufgestellten Grundsätzen in einem Fall wie dem vorliegenden, in dem sich die Verteilungsrelationen durch die Anrechnung ändern, erst durchführen, wenn die Zustimmung des Betriebsrats erteilt oder ersetzt worden ist (BAGE 69, 134, 170 = AP Nr. 51 zu § 87 BetrVG 1972 Lohngestaltung, zu D I der Gründe).

Ist die Maßnahme danach insgesamt mitbestimmungspflichtig, so kann sie auch nicht hinsichtlich der Unwirksamkeitsfolge in einen mitbestimmungsfreien Teil (Kürzung der Zulage um 16,6 %) und einen mitbestimmungspflichtigen Teil (16,6 % übersteigende Kürzung) zerlegt werden. Vielmehr muß die Unwirksamkeit die Anrechnung in ihrer vollen Höhe treffen. Das ergibt sich daraus, daß die Unwirksamkeitsfolge Sanktion für eine Verletzung des Mitbestimmungsrechts ist, also das mitbestimmungswidrige Vorgehen des Arbeitgebers treffen soll.

2. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist die Anrechnungserklärung auch nicht nach § 140 BGB dahingehend umzudeuten, daß sie nur 16,6 % der dem Kläger gezahlten außertariflichen Zulage umfassen sollte. Auch eine Anrechnung um 16,6 % wäre nur mitbestimmungsfrei gewesen, wenn sie bei allen betroffenen Arbeitnehmern gleichmäßig erfolgt wäre. Es fehlt aber jeder Anhaltspunkt dafür, daß die Beklagte im Gegensatz zu der tatsächlich vorgenommenen eine gleichförmige Anrechnung gewollt hätte, wenn sie die Unwirksamkeitsfolge berücksichtigt hätte. Von dieser Möglichkeit, die ihr offenstand, hat sie bewußt nicht Gebrauch gemacht, um die Verteilungsrelationen zu verändern. Insoweit kann auch nicht angenommen werden, eine gleichförmige Anrechnung bedeute im Vergleich zu der tatsächlich vorgenommenen nur ein Minus, das die Beklagte auf jeden Fall ersatzweise gewollt hätte. Vielmehr hätte eine gleichförmige Anrechnung um 16,6 % der Zulagen deren Gesamtvolumen um denselben Betrag vermindert wie die tatsächlich vorgenommene differenzierende Anrechnung, dabei aber einen Teil der Arbeitnehmer mehr, andere - wie den Kläger - weniger belastet als tatsächlich geschehen. Eine so bedeutsame Abweichung kann der Beklagten nicht als gewollt unterstellt werden.

IV. War demnach die Anrechnung unwirksam, so stand dem Kläger für den Zeitraum vor dem Einigungsstellenspruch die Zulage weiter in ungekürzter Höhe zu. Der vom Kläger für die Zeit vom 1. Juni 1991 bis zum 31. Juli 1993 geltend gemachte Zahlungsanspruch, dessen rechnerische Höhe von der Beklagten nicht bestritten wurde, ist in vollem Umfang begründet. Bezüglich der Zinsen bedurfte das arbeitsgerichtliche Urteil der Klarstellung. Wie sich aus dem Antrag des Klägers in der Revisionsinstanz ergibt, hat er Zinsen nur aus dem Nettobetrag begehrt.

Dieterich Rost Wißmann

Stadler Gnade

 

Fundstellen

BAGE 81, 38-46 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

BAGE, 38

BB 1995, 2062

BB 1996, 326

BB 1996, 326-327 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

AiB 1996, 381-382 (Leitsatz 1-2,4 und Gründe)

BetrR 1996, 67-70 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

WiB 1996, 312-313 (Leitsatz)

BetrAV 1996, 291-292 (Leitsatz 1-4)

EWiR 1996, 483 (Leitsatz 1-3)

NZA 1996, 386

NZA 1996, 386-388 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

SAE 1997, 251 (Leitsatz 1-4)

ZAP, EN-Nr 1031/95 (red. Leitsatz)

ZIP 1996, 602

ZIP 1996, 602-605 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

AP § 76 BetrVG 1972 (Leitsatz 1-4), Nr 55

AP § 77 BetrVG 1972, Nr 61

AR-Blattei, ES 1540 Nr 41 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

EzA § 76 BetrVG 1972, Nr 67 (Leitsatz 1-4 und Gründe)

MDR 1996, 393 (Leitsatz)

PERSONAL 1996, 620 (Leitsatz 1-2)

PersF 1996, 247 (Gründe)

ZfPR 1996, Beilage Nr 1, 5 (red. Leitsatz)

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