Entscheidungsstichwort (Thema)

Begründung. Haftfortdauerentscheidung. Haftgrund. Fluchtgefahr. Straferwartung

 

Leitsatz (amtlich)

1. Ein Haftfortdauerbeschluss nach § 268 b StPO bedarf jedenfalls dann, wenn die Verurteilung deutlich von den Vorwürfen des ursprünglichen Haftbefehls abweicht, einer Begründung, aus der hervorgehen muss, welcher Taten der Angeklagte dringend verdächtig ist und worauf die richterliche Überzeugungsbildung beruht. In diesen Fällen reicht der bloße Verweis auf das zugleich verkündete Urteil nicht aus.

2. Weder besteht bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets Fluchtgefahr noch kann bei einer (noch) zu verbüßenden Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren ein ausreichender Fluchtanreiz grundsätzlich ausgeschlossen werden; maßgebend ist vielmehr stets die Würdigung aller Umstände des Einzelfalles.

 

Normenkette

StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2, § 268b

 

Verfahrensgang

LG Bielefeld (Aktenzeichen 09 KLs 6/12)

 

Tenor

Die Haftbeschwerde wird auf Kosten des Angeklagten als unbegründet

verworfen.

 

Gründe

I.

Der Angeklagte Y befindet sich in diesem Verfahren seit dem 15. November 2010 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Bielefeld vom 28. Oktober 2010 (9 Gs 6170/10) mithin über 19 Monate, in Untersuchungshaft.

Der dem Angeklagten am 15. November 2010 verkündete Haftbefehl legt ihm zur Last, in der Zeit vom 02. Juli bis zum 30. August 2010 in C und anderenorts mindestens 10 Fälle des gewebs- und bandenmäßigen Betruges und Urkundenfälschungen begangen zu haben, wobei er mit dem Mitangeklagten M als "Drahtzieher" einer überregional agierenden Bande gewerbsmäßige Betrugstaten zum Nachteil von Commerzbanken und SEB-Banken durch Einreichung von ungedeckten oder gefälschten Schecks begangen haben soll. Mit zwei weiteren Mitangeklagten sollen sie mindestens 7 Personen zur Herausgabe von auf ihre Girokonten bezogene Verrechnungsschecks bewegt haben, die die Angeklagten sodann auf die Konten von mindestens 41 angeworbenen sog. Finanzagenten einreichten. Von diesen

Konten wurden die unter Vorbehalt gutgeschriebenen Scheckbeträge von ca.

4700 - 5000 € ganz oder teilweise abgehoben oder die Abhebung zumindest versucht. Wegen der dem Angeklagten Y vorgeworfenen 10 Einzelfälle wird auf den Inhalt des Haftbefehls, der wegen des Haftgrundes auf Fluchtgefahr und Wiederholungsgefahr gestützt ist, Bezug genommen.

Nach Abschluss der Ermittlungen, die weitere gleichgelagerte Vorwürfe gegen den Angeklagten Y ergeben hatten, erhob die Staaatsanwaltschaft Bielefeld unter dem 25. Februar 2011 Anklage zur I. Wirtschaftsstrafkammer wegen insgesamt 36 selbständiger Taten des Angeklagten Y; die zunächt unter dem

17. Februar 2011 zur allgemeinen Strafkammer erhobene Anklage hatte die Staatsanwaltschaft am 25. Februar 2011 zurückgenommen.Mit Beschluss vom

31. März 2011 ließ die I. Wirtschaftstrafkammer die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete des Hauptverfahren. Mit demselben Beschluss hielt die Kammer

- ohne Anpassung an die weitergehenden Vorwürfe der Anklageschrift- den Haftbefehl aufrecht; der Haftgrund der Fluchtgefahr bestehe fort.

Nach 12 Verhandlungstagen ab dem 11. April 2011 wurde der Angeklagte durch

Urteil der I. großen (Wirtschafts-)Strafkammer des Landgerichts Bielefeld vom

25. Juli 2011 des versuchten Betruges in Tateinheit mit Urkundenfälschung und des gewerbs- und bandenmäßig begangenen Betruges in Tateinheit mit gewerbs- und bandenmäßig begangener Urkundenfälschung in 17 Fällen, wobei es in zwei Fällen hinsichtlich der Betrugstat beim Versuch blieb, schuldig gesprochen. Unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts Augsburg vom 20. Oktober 2010 (Az.: 9 Ls 304 Js 115873/08), durch das gegen ihn wegen Urkundenfälschung in Tateinheit mit versuchtem Betrug eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten unter Strafaussetzung zur Bewährung verhängt worden war, wurde er zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.

Im Anschluss an die Verkündung des Urteils am 25. Juli 2011 hat die Strafkammer gemäß § 268 b StPO die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen den Angeklagten aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Bielefeld vom 28. Oktober 2010 (Az.:

9 Gs 6170/10) aus den Gründen und im Umfang der Verurteilung vom selben Tage beschlossen ( Anlage 1 zum Protokoll vom 25. Juli 2011).

Gegen dieses Urteil legte der Angeklagte - wie zwei Mitangeklagte - durch seinen Verteidiger Revision ein, nahm diese jedoch mit Schreiben vom 24. Januar 2012

zurück. Auf die Revisionen der Mitangeklagten hat der Bundesgerichtshof durch

Beschluss vom 6. März 2012 (Az.: 4 StR 669/11) das Urteil vom 25. Juli 2011

- soweit es den Angeklagten Y betrifft - in Gänze aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die inzwischen zuständig gewordene 9. Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Bielefeld zurückverwiesen. Der gegen den Angeklagten Y erlassene Haftbefehl ist infolge der Revisionserstreckung gemäß §§ 357 S. 2, 47 Abs. 3 StPO wieder wirksam geworden.

Mit Zuschrift seines Verteidige...

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