Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedereinsetzung bei Versäumung der Berufungsfrist unter Berücksichtigung der richterlichen Fürsorgepflicht
Leitsatz (amtlich)
Wenn ein Rechtsanwalt bei Einlegen der Berufung die durch das ZPO-RG geänderten Zuständigkeiten (hier § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG - formale Auslandsberührung) nicht beachtet, kommt grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht.
Wiedereinsetzung kann zu gewähren sein, wenn das angerufene unzuständige Gericht zur Wahrung des Anspruches auf ein faires Verfahren im Rahmen der ihm obliegenden Fürsorgepflicht die Berufungsschrift an das zuständige Gericht hätte weiterleiten müssen.
Tenor
Dem Kläger wird auf seinen Antrag vom 2.2.2004 Wiedereinsetzung hinsichtlich der Versäumung der Berufungsfrist gegen das am 14.11.2003 verkündete Urteil der 84. Abt. des AG N. - 84 C 3092/03 - gewährt.
Über die Kosten der Wiedereinsetzung wird in der Endentscheidung befunden.
Gründe
Der Kläger begehrt Wiedereinsetzung wegen Versäumung der Berufungsfrist.
Er hatte vor dem AG N. die beklagten Wohnungseigentümer auf Zahlung von Werklohn in Anspruch genommen. Das AG N. hat die Klage abgewiesen. Das Urteil vom 14.11.2003 ist dem Kläger persönlich - nach Niederlegung des Mandates durch seinen ursprünglichen Prozessbevollmächtigten - am 17.11.2003 zugestellt worden.
Mit Schriftsatz vom 20.11.2003 hat der jetzt für den Kläger tätige Prozessbevollmächtigte beim LG Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift ist dort am 21.11.2003 eingegangen.
Nach Hinweis vom 19.1.2004 und (Verweisungs- und Wiedereinsetzungs-) Antrag des Klägers vom 2.2.2004 hat das LG mit Beschluss vom 9.2.2004 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen, weil einer der Beklagten seinen Wohnsitz in den USA hatte und daher seit dem 1.1.2002 für die Berufung das OLG zuständig war, § 119 Abs. 1 Nr. 1b GVG i.d.F. des ZPO-RG.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung ist begründet.
Zwar war der Kläger nicht schuldlos verhindert, rechtzeitig bei dem OLG als zuständigem Rechtsmittelgericht die Berufung gegen das Urteil des AG N. einzulegen. Denn die Versäumung der Berufungsfrist beruht auf einem Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers, das gem. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden des Klägers gleich steht.
Die Berufungsfrist endete am 17.12.2003, weil das angefochtene Urteil dem Kläger am 17.11.2003 wirksam zugestellt worden ist, § 517 ZPO. Nachdem sein früherer Prozessbevollmächtigter das Mandat niedergelegt hatte, war - weil das amtsgerichtliche Verfahren Parteiprozess ist - an den Kläger persönlich zuzustellen (vgl. Zöller/Stöber, ZPO, 24. Aufl., § 172 Anm. 11).
Eine Berufungsschrift hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers vor Ablauf der Berufungsfrist nicht beim OLG eingereicht.
Damit hat er schuldhaft gehandelt, weil dieses Versäumnis für einen pflichtgemäß handelnden Rechtsanwalt abwendbar gewesen wäre. Denn bei einem Rechtsanwalt ist die Kenntnis jedenfalls der Bundesgesetze vorauszusetzen, die er gewöhnlich anzuwenden hat (Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 233 Anm. 23 - Rechtsirrtum). Dazu zählt auch die ZPO, über deren Änderungen durch das ZPO-RG der Prozessbevollmächtigte des Klägers sich in angemessener Frist zu informieren hatte. Wenn ein Rechtsanwalt bei Einlegen des Rechtsmittels die durch das ZPO-RG geänderten Zuständigkeiten nicht beachtet, kommt daher grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht in Betracht (Zöller/Greger, 24. Aufl., § 233 Anm. 23 - Rechtsirrtum).
Das Verschulden des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist jedoch nicht ursächlich für die Versäumung der Berufungsfrist geworden. Da aber nur ursächliches Verschulden die Wiedereinsetzung ausschließt (Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 233 Anm. 22), ist im vorliegenden Fall ausnahmsweise Wiedereinsetzung zu gewähren.
Denn es wäre dem LG möglich und zuzumuten gewesen, die Versäumung der Berufungsfrist zu vermeiden. Es hätte zur Wahrung des Anspruches des Klägers auf ein faires Verfahren, der als "allgemeines Prozessgrundrecht" aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet wird (BVerfG v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343), die bei ihm eingegangene Berufungsschrift an das OLG weiterleiten müssen.
Der Anspruch auf ein faires Verfahren besagt, dass der Richter das Verfahren so gestalten muss, wie die Parteien des Zivilprozesses es von ihm erwarten dürfen (BVerfG v. 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00, NJW 2001, 1343; und v. 26.4.1988 - 1 BvR 669/87, 1 BvR 686/87, 1 BvR 687/87, BVerfGE 78, 123 [126] = MDR 1988, 749). Was im Rahmen einer fairen Verfahrensgestaltung an richterlicher Fürsorge von Verfassungswegen geboten ist, hängt ab von einer Abwägung zwischen dem Interesse der Rechtssuchenden an einer möglichst weitgehenden Verfahrenserleichterung und dem Anliegen der Justiz, im Interesse ihrer Funktionsfähigkeit vor zusätzlicher Belastung geschützt zu werden. Danach muss der Partei und ihrem Prozessbevollmächtigten die Verantwortung für die Ermittlung des richtigen Adressaten fristgebundener Verfahrenserklärungen nicht...