Entscheidungsstichwort (Thema)
Vertretung der Europäischen Union vor den nationalen Gerichten. Art. 282 EG und 335 AEUV. Klage auf Ersatz des der Union durch ein Kartell entstandenen Schadens. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Recht auf ein faires Verfahren. Recht auf Zugang zu einem Gericht. Waffengleichheit. Art. 16 der Verordnung Nr. 1/2003
Beteiligte
ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl |
General Technic-Otis Sàrl |
ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV |
Tenor
1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens die Europäische Kommission nicht daran hindert, die Europäische Union vor einem nationalen Gericht zu vertreten, bei dem eine zivilrechtliche Klage auf Ersatz des Schadens anhängig ist, der der Union durch ein nach Art. 81 EG und Art. 101 AEUV verbotenes Kartell oder Verhalten zugefügt wurde, das von verschiedenen Organen und Einrichtungen der Union vergebene öffentliche Aufträge beeinträchtigt haben könnte, ohne dass die Kommission hierzu einer Vertretungsvollmacht dieser Organe und Einrichtungen bedarf.
2. Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hindert die Europäische Kommission nicht daran, im Namen der Europäischen Union vor einem nationalen Gericht auf Ersatz des Schadens zu klagen, der der Union aufgrund eines Kartells oder eines Verhaltens entstanden ist, für das in einer Entscheidung dieses Organs die Unvereinbarkeit mit Art. 81 EG oder Art. 101 AEUV festgestellt wurde.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Rechtbank van koophandel te Brussel (Belgien) mit Entscheidung vom 18. April 2011, beim Gerichtshof eingegangen am 28. April 2011, in dem Verfahren
Europese Gemeenschap
gegen
Otis NV,
General Technic-Otis Sàrl,
Kone Belgium NV,
Kone Luxembourg Sàrl,
Schindler NV,
Schindler Sàrl,
ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV,
ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Große Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, des Vizepräsidenten K. Lenaerts, des Kammerpräsidenten A. Tizzano, der Kammerpräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, A. Rosas und E. Jarašiūnas, der Richter E. Levits, A. Ó Caoimh, J.-C. Bonichot und A. Arabadjiev (Berichterstatter), der Richterin A. Prechal sowie des Richters C. G. Fernlund,
Generalanwalt: P. Cruz Villalón,
Kanzler: M. Ferreira, Hauptverwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 14. März 2012,
unter Berücksichtigung der Erklärungen:
- der Otis NV, vertreten durch H. Speyart, S. Brijs und G. Borremans, advocaten,
- der Kone Belgium NV, vertreten durch D. Paemen, avocat, D. Vermeiren, advocaat, und T. Vinje, Solicitor,
- der Schindler NV, vertreten durch P. Wytinck, advocaat,
- der ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV, vertreten durch O. Brouwer, N. Lorjé und A. Pliego Selie, advocaten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch H. Krämer und C. ten Dam als Bevollmächtigte,
- des Rates der Europäischen Union, vertreten durch B. Driessen als Bevollmächtigten,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 26. Juni 2012
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 282 EG, Art. 335 AEUV und Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) sowie der Art. 103 und 104 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1605/2002 des Rates vom 25. Juni 2002 über die Haushaltsordnung für den Gesamthaushaltsplan der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L 248, S. 1) in der durch die Verordnung (EG, Euratom) Nr. 1995/2006 des Rates vom 13. Dezember 2006 (ABl. L 390, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Haushaltsordnung).
Rz. 2
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Europese Gemeenschap (Europäische Gemeinschaft), vertreten durch die Europäische Kommission, einerseits und den Herstellern von Aufzügen und Fahrtreppen Otis NV, Kone Belgium NV, Schindler NV, ThyssenKrupp Liften Ascenseurs NV, General Technic-Otis Sàrl, Kone Luxembourg Sàrl, Schindler Sàrl et ThyssenKrupp Ascenseurs Luxembourg Sàrl andererseits über einen Anspruch auf Schadensersatz wegen einer von diesen Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung gegen Art. 81 EG.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Die Verträge
Rz. 3
Art. 282 EG bestimmte:
„Die Gemeinschaft besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist; sie kann insbesondere bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht stehen. Zu diesem Zweck wird sie von der Kommission vertreten.”
Rz. 4
Mit Wirkung vom 1. Dezember 2009 wurde Art. 282 EG infolge des Inkrafttretens des AEU-Vertrags durch Art. 335 AEUV ersetzt, der wie folgt lautet:
„Die Union besitzt in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rec...