Dr. Thilo Schülke, Steve Scheffel
aa) Rückstellungspflicht
Tz. 460
Gemäß dem Vollständigkeitsgebot bei der Aufstellung der Jahresabschlüsse (§ 246 Abs. 1 HGB) muss der Jahresabschluss sämtliche Schulden und damit auch Rückstellungen enthalten. Demzufolge ist jährlich eine Inventur der Risiken des Unternehmens zur vollständigen Erfassung der Vermögenslage vorzunehmen. Die Identifikation der Risiken sollte unter Heranziehung des Rückstellungskatalogs (vgl. Tz. 447) erfolgen. Sofern am Bilanzstichtag eine der in § 249 HGB aufgeführten Tatbestände vorliegt, ist eine entsprechende Rückstellung zu passivieren. Dies markiert den Zeitpunkt der Rückstellungsbildung (Passivierungszeitpunkt, vgl. Tz. 480). Die bis dahin bestehenden Wahlrechte zur Bildung von Rückstellungen wurden mit Einführung des BilMoG abgeschafft. Eine Ausnahme vom Vollständigkeitsgebot des § 246 HGB kann nur unter dem Gesichtspunkt der Wesentlichkeit vertreten werden.
Tz. 461
Die Rückstellungsbildung erfolgt zum Bilanzstichtag unter Berücksichtigung aller Tatsachen, von denen der Bilanzierende bis zum Tag der Aufstellung des Jahresabschlusses Kenntnis erlangt hat (vgl. Kapitel 6 Tz. 20). Auch wenn der Gesetzgeber den Begriff des Kaufmanns bemüht, so ist dieser nicht i. e. S. zu verstehen. Der Kaufmann muss sich auch Kenntnisse seiner Organisation zurechnen lassen. Der Bilanzierende bzw. verantwortliche Bilanzaufsteller braucht demnach keine direkte Kenntnis zu besitzen, bereits die Kenntnisse der Mitarbeiter sind relevant.
BEISPIEL
Die X-GmbH erhält im Dezember 01 die Meldung, dass dem Kunden Q eine defekte Rüttelplatte geliefert wurde. Aufgrund der defekten Rüttelplatte überlegt Q, Schadensersatz wegen Bauverzögerung geltend zu machen. Im Januar 02 beruft Q sich tatsächlich auf Schadensersatzansprüche beim zuständigen Key Account Manager Z. Zum Aufstellungszeitpunkt Anfang Februar 02 hat der verantwortliche Bilanzersteller B keine Kenntnis hiervon erlangt, da Z den Vorgang noch nicht weitergeleitet hat. Es ist nicht ausschlaggebend, dass B keine Kenntnis hatte, sondern dass die Organisation, der er angehört, Kenntnis hatte und er hätte Kenntnis haben können. Das Wissen des Z strahlt auf die X-GmbH aus.
Von den werterhellenden sind die wertbegründenden Tatbestände zu unterscheiden. Letztere haben, sofern sie nach dem Bilanzstichtag entstanden sind, keine Konsequenzen für den in der Vergangenheit liegenden Bilanzstichtag (vgl. Kapitel 6 Tz. 13).
Tz. 462
Hinsichtlich der Art der Verpflichtung sind grundsätzlich Geld-, Dienst- oder Sachleistungs-/Sachwertverpflichtungen zu unterscheiden. Die Rückstellungbildung wird damit nicht allein auf monetäre Verpflichtungen beschränkt. Typische weitere Beispiele sind:
- Dienstleistungsverpflichtung – Garantieleistungen im Reparaturfall
- Sachleistungsverpflichtung – Ersatz eines Produkts durch den Hersteller
bb) Rückstellungskriterien (dem Grunde nach)
Tz. 463
Zur Bildung einer Rückstellung für ungewisse Verbindlichkeiten müssen zusammenfassend die folgenden Kriterien erfüllt sein:
- Bestehen einer Schuld sowie einer faktischen oder rechtlichen Außenverpflichtung
- Vorliegen einer wirtschaftlichen Belastung (Vermögenslastprinzip), u. a. keine Aktivierung als Anschaffungs- oder Herstellungskosten
- hohe Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme aus der Verpflichtung
Alleiniges Kriterium der Bildung einer Drohverlustrückstellung ist das Vorliegen eines drohenden Verlustes aus schwebenden Geschäften mit einer externen Partei.
Tz. 464
Die gesetzlich festgehaltene Möglichkeit zur Bildung von Aufwandsrückstellungen wurde mit Inkrafttreten des BilMoG gestrichen. Seit dem BilMoG sind Aufwandsrückstellungen (§ 249 Abs. 1 Satz 2 Alternative 1 HGB) nur dann passivierbar, wenn die damit einhergehenden Aufwendungen zum Bilanzstichtag aus betrieblichen Gründen geboten waren und die Aufwendungen zu den gesetzlich festgehaltenen Ausnahmen vom Passivierungsverbot gehören (vgl. Tz. 459).
Die Passivierung nachgeholter Aufwendungen, Aufwendungen für Instandhaltung und Abraumbeseitigung, widerspricht hier dem Außenverpflichtungsprinzip und stellt im Lichte der Änderungen des BilMoG an § 249 HGB einen Kompromiss zwischen der Internationalisierung der Rechnungslegung und der Maßgeblichkeit der handelsrechtlichen Rechnungslegung für steuerliche Zwecke dar, da die Beibehaltung dieser handelsrechtlichen Passivierungspflichten der unveränderten steuerlichen Wirkung ...