Leitsatz

1. Falls ein Leistungsempfänger bereits zur Vornahme des Vorsteuerabzugs berechtigt ist, obwohl beim leistenden Unternehmer aufgrund der Gestattung der Ist-Besteuerung noch keine Umsatzsteuer entstanden ist, beruht dies umsatzsteuerrechtlich nicht auf einer missbräuchlichen Gestaltung durch die am Leistungsaustausch beteiligten Steuerpflichtigen, sondern auf einer unzutreffenden Umsetzung oder Anwendung des Art. 167 MwStSystRL durch den Mitgliedstaat Deutschland.

2. Es bleibt offen, ob der Begriff "geschuldet" im Sinne des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG im Lichte des EuGH-Urteils Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 – C 9/20 (EU:C:2022:88, Rz 49) sowie der Art. 167, Art. 179 Satz 1 MwStSystRL eine zeitliche Komponente enthält und deshalb dahin gehend zu verstehen ist, dass die Umsatzsteuer vom Leistenden schon geschuldet werden muss, um vom Leistungsempfänger als Vorsteuer abgezogen werden zu können (und daher vom Leistungsempfänger noch nicht abgezogen werden darf, solange sie vom Leistenden noch nicht geschuldet wird).

 

Normenkette

§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1, § 20 UStG, § 42 AO, Art. 167, Art. 179 Satz 1 EGRL 112/2006 (= MwStSystRL)

 

Sachverhalt

Der Kläger, ein Unternehmer, besteuert seine Umsätze seit 1987 aufgrund einer Genehmigung, die unter Widerrufsvorbehalt erteilt worden ist, nach vereinnahmten Entgelten.

2015 fand beim Kläger eine Außenprüfung statt. Der Prüferin fiel auf, dass der Kläger als Geschäftsführer verschiedener Leistungsempfängerinnen tätig war, denen er Rechnungen mit gesondertem Ausweis von USt erteilt hatte. Die Leistungsempfängerinnen buchten die Umsätze über Verrechnungskonten und bezahlten sie jahrelang nicht. In den Rechnungen waren weder Zahlungsfristen genannt noch Fälligkeiten ausgewiesen. Die Prüferin war der Auffassung, dass eine Vereinnahmung der Entgelte beim Kläger habe vermieden werden sollen.

Das damals zuständige FA widerrief daraufhin die o. g. Genehmigung zum 1.1.2016. Die sofortige Vornahme des Vorsteuerabzugs bei den Leistungsempfängerinnen bei fehlender Vereinnahmung der Entgelte für die Umsätze beim Kläger begründe bei nahestehenden Personen die Vermutung, dass die Gestattung missbraucht werde. Der Einspruch blieb erfolglos.

Das FG (FG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24.11.2020, 3 K 1192/18, Haufe-Index 14306710) wies die Klage ab. Es liege eine Gefährdung des Steueraufkommens vor. Das Verhalten bringe die Gefahr von endgültigen Steuerausfällen mit sich.

Der BFH hatte im Laufe des Revisionsverfahrens die Beteiligten auf das EuGH-Urteil Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136 vom 10.2.2022, C 9/20 (EU:C:2022:88) hingewiesen.

 

Entscheidung

Der BFH hob die Vorentscheidung, die Einspruchsentscheidung und den Widerruf auf. Ob eine Ermessensreduzierung auf null vorliegt oder nur die bisherigen Erwägungen ermessensfehlerhaft waren, blieb offen.

 

Hinweis

Wenn man den Inhalt der Entscheidung kurzfassen will, dann kann man formulieren, dass ein (mögliches) "Versäumnis" des deutschen Gesetzgebers bei der Besteuerung des Leistungsempfängers nicht den Vorwurf des Missbrauchs durch den leistenden Unternehmer rechtfertigt.

1. Nach Art. 167 MwStSystRL entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Dies hat der EuGH (EuGH, Urteil vom 10.2.2022, C 9/20, Grundstücksgemeinschaft Kollaustraße 136, EU:C:2022:88, BFH/NV 2022, 399) nochmals klargestellt.

2. Die deutsche Rechtspraxis ist insofern (zugunsten der Leistungsempfänger)großzügiger: Der Vorsteuerabzug steht "aus dem Soll" zu (vgl. z.B. Abschn. 15.2 Abs. 2 UStAE). Der Zusatz, dass die als Vorsteuer abziehbare Steuer beim leistenden Unternehmer entstanden sein muss, fehlt dort. Das hat bisher niemanden gestört, da es eine Abweichung vom Unionsrecht ist, die für die Unternehmer günstiger und für die Verwaltung einfacher ist.

3. Dem Versuch, die nationale Großzügigkeit und Vereinfachung in bestimmten Konstellationen dadurch wieder einzufangen, dass man nicht dem Leistungsempfänger, sondern dem Leistenden einen Missbrauch unterstellt, hat der BFH eine Absage erteilt. Der leistende Unternehmer, der die Voraussetzungen der Ist-Besteuerung erfüllt, darf sie beantragen. Sein Verhalten wird nicht dadurch "missbräuchlich", dass die deutsche Praxis beim Leistungsempfänger den Vorsteuerabzug "aus dem Soll" zulässt. "Reparaturen" müssten daher, wenn überhaupt nötig, beim Leistungsempfänger ansetzen (und nicht beim Leistenden als Dritten). Der Leistungsempfänger nutzt die nationale Großzügigkeit und Vereinfachung, indem er einen Betrag als Vorsteuer schon abzieht, obwohl er ihn noch nicht an einen Ist-Besteuerer gezahlt hat.

4. Ansonsten zeigt der BFH mit seinen Hinweisen, dass der Widerruf der Gestattung der Ist-Besteuerung im Streitfall ein klassischer "Nebenkriegsschauplatz" ist. Die eigentlichen Fragen im Fall lauten: Hat der Kläger überhaupt Leistungen ausgeführt oder handelt es sich um Scheinrechnungen (mit Steuerentstehung nach § 13 Abs. 1 Nr. 3 UStG)? Wurde die USt vereinnahmt (z.B. durc...

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