Leitsatz

Die Aufhebung der Vollziehung eines Steuerbescheids erscheint dann zur Abwendung wesentlicher Nachteile i.S.d. § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2, Abs. 3 Satz 4 FGO nötig, wenn das zuständige Gericht von der Verfassungswidrigkeit einer streitentscheidenden Vorschrift überzeugt ist und diese deshalb gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG zur Prüfung vorgelegt hat.

 

Normenkette

Art. 100 Abs. 1 GG , Art. 19 Abs. 4 GG , § 69 Abs. 2 Satz 8 Halbsatz 2 FGO , § 69 Abs. 3 Satz 4 FGO , § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG

 

Sachverhalt

Die Eheleute werden zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Ehemann erzielte im Jahr 2000 (Streitjahr) durch den Verkauf eines im Jahr 1993 erworbenen Grundstücks einen Veräußerungsgewinn, den das FA i.S.d. § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 EStG bei der Einkommensteuerveranlagung als steuerbar ansah. Die Eheleute legten hiergegen Einspruch ein und beantragten, die Vollziehung des Jahressteuerbescheids aufzuheben, soweit die Festsetzungen auf den Veräußerungsgewinn entfielen.

Das FA setzte nur die Abschlusszahlung für Kirchensteuer von der Vollziehung aus. Im Übrigen lehnte es ebenso wie das anschließend angerufene FG den Aussetzungsantrag ab. Dagegen richtet sich die Beschwerde.

 

Entscheidung

Der BFH hat die Vollziehung des angefochtenen Bescheids unter Hinweis auf seinen Vorlagebeschluss vom 16.12.2003, IX R 46/02 (BFH-PR 2004, 180 in diesem Heft) zur Verfassungswidrigkeit der übergangslos verlängerten Spekulationsfrist in § 23 Abs. 1 EStG auf zehn Jahre aufgehoben. Auf Basis dieser Rechtsauffassung des Senats hätten die Eheleute in der Hauptsache Erfolg.

 

Hinweis

1. Gem. § 69 Abs. 3 FGO kann das Gericht der Hauptsache, wenn der Verwaltungsakt schon vollzogen ist, wegen ernstlicher Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit ganz oder teilweise die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Dies gilt auch für verfassungsrechtliche Zweifel an der Gültigkeit einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm (BVerfG, Urteil vom 21.2.1961, 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63; BFH, Beschluss vom 6.11.2001, II B 85/01, BFH/NV 2002, 508), wenn dies im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes geboten erscheint und weder die Hauptsacheentscheidung vorweggenommen wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24.6.1992, 1 BvR 1028/91, BVerfGE 86, 382, 389) noch davon auszugehen ist, dass das BVerfG die Fortgeltung der verfassungswidrigen Norm für eine am rechtsstaatlichen Kontinuitätsgebot orientierten Übergangsfrist anordnen wird (vgl. BFH, Beschluss vom 17.7.2003, II B 20/03, BFH-PR 2003, 434).

Eine solche Übergangsfrist ist – so der BFH – nicht zu erwarten, wenn die verfassungsrechtlichen Bedenken wie im Fall der rückwirkenden Verlängerung der Spekulationsfrist des § 23 Abs. 1 EStG (vgl. BFH, Beschluss vom 16.12.2003, IX R 46/02, BFH-PR 2004, 180 (in diesem Heft) den Verstoß gegen das rechtsstaatliche Kontinuitätsgebot betreffen. Bei dieser Sachlage ist auch ein berechtigtes Interesse an der Aufhebung der Vollziehung zu bejahen.

2. Gem. § 69 Abs. 2 Satz 8 i.V.m. Abs. 3 Satz 4 FGO sind bei Steuerbescheiden die Aussetzung und die Aufhebung der Vollziehung auf die festgesetzte Steuer, vermindert um die anzurechnenden Steuerabzugsbeträge, um die anzurechnende Körperschaftsteuer und um die festgesetzten Vorauszahlungen, beschränkt; dies gilt nicht, wenn die Aussetzung oder Aufhebung der Vollziehung zur Abwendung wesentlicher Nachteile (i.S. einer unmittelbaren Bedrohung der wirtschaftlichen oder persönlichen Existenz des Steuerpflichtigen) nötig erscheint.

Gleichermaßen unbeschränkt ist nach Auffassung des BFH die Vollziehung aufzuheben, um eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung von Grundrechten zu vermeiden, die durch eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15.8.2002, 1 BvR 179/00, NJW 2002, 3691). Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache können dafür schon ausreichen, wenn die Rechtslage klar und eindeutig für die begehrte Regelung spricht und eine abweichende Beurteilung in einem etwa durchzuführenden Hauptverfahren zweifelsfrei auszuschließen ist (BFH, Beschluss vom 13.11.2002, I B 147/02, BFH-PR 2003, 93) oder wenn bei Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit einer Norm die Dringlichkeit, ihren Vollzug einstweilen auszusetzen, besonders deutlich wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13.11.1957, 1 BvR 78/56, BVerfGE 7, 175, 180). Dies gilt insbesondere, wenn das zuständige Gericht eine streitentscheidende Vorschrift bereits gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG vorgelegt hat, weil es von ihrer Verfassungswidrigkeit überzeugt ist.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 22.12.2003, IX B 177/02

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