Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung der Vollziehung bei ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes

 

Leitsatz (NV)

  1. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts i.S. von § 69 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 FGO können auch dann bestehen, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes (hier: Hamburgisches Spielgerätesteuergesetz) selbst bestehen (Urteil des BVerfG vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63).
  2. In diesem Fall ist im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes erforderlich (BFH-Entscheidungen vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, 434, BStBl II 1988, 134; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, 128; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104 und vom 9. Oktober 1991 III B 51/91, III B 74/91, III B 81/91, BFHE 165, 415, BStBl II 1992, 91). Dieses kann z.B. wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Vollziehung der Bescheide zu verneinen sein.
 

Normenkette

AO 1977 § 168 S. 1; FGO § 69 Abs. 2, 3 S. 1; GG Art. 3, 105 Abs. 2a; SpStG HA

 

Tatbestand

I. Die Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin), eine GmbH, stellt in Hamburg Geldspielgeräte mit Gewinnmöglichkeit in Spielhallen auf. Mit ihrer Spielgerätesteueranmeldung für Dezember 2000 vom 24. Januar 2001 meldete sie einen Bestand von 77 Spielgeräten (davon 4 B-Geräte; Steuer: 200 DM monatlich) an und errechnete eine monatliche Spielgerätesteuer von 44 600 DM. Gegen die nach § 168 Satz 1 der Abgabenordnung (AO 1977) einer Steuerfestsetzung unter Vorbehalt der Nachprüfung gleichstehende Steueranmeldung (§ 167 AO 1977) legte die Antragstellerin ebenfalls am 24. Januar 2001 Einspruch ein. Über den Einspruch hat der Antragsgegner, Beschwerdegegner und Beschwerdeführer (das Finanzamt ―FA―) noch nicht entschieden.

Die Antragstellerin beantragte am 24. Januar 2001 beim FA die Aussetzung der Vollziehung (AdV) der angemeldeten Spielgerätesteuer. Diesen Antrag lehnte das FA ab. Daraufhin stellte die Antragstellerin am 8. März 2001 beim Finanzgericht (FG) einen Antrag auf AdV. Sie bezog sich hierbei in erster Linie auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 6. Dezember 2000 II R 36/98 (BFH/NV 2001, 650) und machte geltend, die Verfassungsmäßigkeit des Hamburgischen Spielgerätesteuergesetzes (SpStG HH) vom 29. Juni 1988 (zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. Dezember 1994, Hamburgisches Gesetz- und Verordnungsblatt 1994, 363) sei ernstlich zweifelhaft.

Das FG setzte durch Beschluss vom 30. April 2001 "die Vollziehung des Spielgerätesteuerbescheids vom 24. Januar 2001 in Höhe von 21 900 DM der monatlichen Steuer von 44 600 DM ab Januar 2001 gegen Sicherheitsleistung von monatlich jeweils ebenfalls 21 900 DM aus" und lehnte den weitergehenden Antrag der Antragstellerin ab. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung bestünden nur hinsichtlich der Erhöhung des Steuersatzes von 300 DM auf 600 DM ab 1. Januar 1995. Die Anordnung der Sicherheitsleistung sei geboten, weil sich die auszusetzenden Beträge aufgrund der als unbefristete Steuerfestsetzung wirkenden Steueranmeldung jeden Monat erhöhten, sodass sich bei einer längeren Dauer des Verfahrens insgesamt ein erheblicher Aussetzungsbetrag ergebe. Das FG hat die Beschwerde zugelassen.

Gegen diesen Beschluss haben sowohl die Antragstellerin als auch das FA Beschwerde eingelegt. Das FG hat den Beschwerden nicht abgeholfen.

Die Antragstellerin macht geltend, das SpStG HH stehe insgesamt auf dem Prüfstand. Es gehe nicht nur um die Frage, ob die Spielgerätesteuer erdrosselnde Wirkung habe, sondern zweifelhaft sei auch, ob der Hamburgische Landesgesetzgeber für das SpStG die Gesetzgebungskompetenz habe, die Erhebung der Spielgerätesteuer gegen das Recht der Europäischen Gemeinschaft verstoße und die Anwendung eines Pauschalmaßstabes (Steuer pro Spielgerät) anstelle eines sachgerechteren, an die individuellen Einnahmen anknüpfenden (Wirklichkeits-)Maßstabes gegen Art. 3 des Grundgesetzes (GG) verstoße. Die Anordnung einer Sicherheitsleistung erscheine sinnwidrig, da Gegenstand des Verfahrens gerade die wirtschaftliche Untragbarkeit der Steuer sei. Durch die Anordnung der Sicherheitsleistung werde die wirtschaftliche Leistungs- und Überlebensfähigkeit der Antragstellerin nicht gesichert, sondern gefährdet.

Die Antragstellerin beantragt, unter Abänderung des Beschlusses des FG Hamburg vom 30. April 2001 die Vollziehung des Spielgerätesteuerbescheids vom 24. Januar 2001 in voller Höhe ab Januar 2001 bis zur Bestandskraft der Einspruchsentscheidung auszusetzen.

Das FA beantragt, die Beschwerde der Antragstellerin zurückzuweisen.

Mit seiner eigenen Beschwerde beantragt das FA, den Beschluss des FG Hamburg vom 30. April 2001 aufzuheben und den Antrag auf AdV insgesamt als unbegründet zurückzuweisen.

Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde des FA zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

II. Beide Beschwerden, die der Antragstellerin und die des FA, sind unbegründet. Das FG hat zutreffend die Vollziehung der Spielgerätesteueranmeldung vom 24. Januar 2001 in Höhe eines Teilbetrages von 21 900 DM der monatlich zu entrichtenden Steuer von 44 600 DM ab Januar 2001 gegen Sicherheitsleistung ausgesetzt.

Gemäß § 69 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann die Finanzbehörde oder auf Antrag das FG die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts u.a. dann aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne bestehen, wenn bei einer überschlägigen Prüfung neben für die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts sprechenden Umständen gewichtige gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung der Tatfragen bewirken (BFH-Beschluss vom 28. Mai 1986 I B 22/86, BFHE 146, 508, BStBl II 1986, 656). Dies gilt auch dann, wenn ernste verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Gültigkeit eines Gesetzes selbst bestehen (Urteil des Bundesverfassungsgerichts ―BVerfG― vom 21. Februar 1961 1 BvR 314/60, BStBl I 1961, 63). In diesem Fall fordert der BFH in ständiger Rechtsprechung im Hinblick auf den Geltungsanspruch jedes formell verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetzes zusätzlich ein (besonderes) berechtigtes Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (BFH-Entscheidungen vom 6. November 1987 III B 101/86, BFHE 151, 428, 434, BStBl II 1988, 134; vom 2. August 1988 III B 12/88, BFHE 154, 123, 128; vom 20. Juli 1990 III B 144/89, BFHE 162, 542, BStBl II 1991, 104, und vom 9. Oktober 1991 III B 51/91, III B 74/91, III B 81/91, BFHE 165, 415, BStBl II 1992, 91). Dieses kann z.B. wegen eines überwiegenden öffentlichen Interesses an der Vollziehung der Bescheide zu verneinen sein.

1. Die AdV in dem vom FG verfügten Umfang ist ―entgegen der Auffassung des FA― wegen ernstlicher Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des SpStG HH gerechtfertigt. Diese Zweifel ergeben sich daraus, dass Ungewissheit im Tatsächlichen darüber besteht, ob das SpStG HH in der ab dem 1. Januar 1995 geltenden Fassung eine erdrosselnde Wirkung hat und sich als faktisches Verbot des Aufstellens von Spielgeräten mit Gewinnmöglichkeit auswirkt (BFH-Urteil in BFH/NV 2001, 650). Insoweit hat ―worauf die Antragstellerin ausdrücklich Bezug genommen hat― die Klägerin in dem Verfahren II R 36/98 unter Hinweis auf Umfragen des Hamburger Automatenverbandes geltend gemacht, dass die weit überwiegende Anzahl der befragten Betriebe mit Verlust bzw. nur geringem Gewinn arbeiteten. Angesichts dieses konkreten Vortrags ist aufklärungsbedürftig, ob aufgrund des SpStG HH das Aufstellen von Spielgeräten mit Gewinnmöglichkeiten in Spielhallen für einen durchschnittlichen Betreiber in aller Regel unwirtschaftlich ist, d.h. keine angemessene Kapitalverzinsung und keinen Unternehmerlohn mehr abwirft (BFH-Urteil in BFH/NV 2001, 650). Das Ergebnis der vom FG nach der Zurückverweisung der Sache II R 36/98 durch den BFH noch durchzuführenden Sachverhaltsaufklärung ist offen. Es besteht somit Unklarheit in der Beurteilung der Tatfrage, ob die Spielgerätesteuer erdrosselnde Wirkung hat.

2. Es besteht auch ein (besonderes) berechtigtes Interesse der Antragstellerin an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Insbesondere steht dem Aussetzungsinteresse der Antragstellerin ―wie das FG zutreffend angenommen hat― kein überwiegendes öffentliches Interesse, insbesondere das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung entgegen. Die Auswirkungen auf den Gesamthaushalt sind relativ gering. Hinzu kommt, dass mit einer Klärung der verfassungsrechtlichen Zweifel an dem SpStG HH in einem überschaubaren Zeitraum gerechnet werden kann. Der Hinweis des FA auf die Folgen einer Aussetzung/Aufhebung der Vollziehung auch für Zeiträume vor dem 1. Januar 2001 für den Haushalt der Stadt Hamburg ist rechtlich unerheblich, weil es hier nur um den Zeitraum ab 1. Januar 2001 geht und nur insoweit zu prüfen ist, ob überwiegende öffentliche Interessen vorliegen.

3. Andererseits kommt aber auch eine AdV des Spielgerätesteuerbescheides in vollem Umfang ―wie von der Antragstellerin beantragt― nicht in Betracht.

a) Soweit die Antragstellerin geltend macht, der Hamburgische Landesgesetzgeber besitze für das SpStG keine Gesetzgebungskompetenz nach Art. 105 Abs. 2 a GG, sowie ferner darauf verweist, die Erhebung der Spielgerätesteuer verstoße gegen Art. 33 der Richtlinie 77/388/EWG i.d.F. der Richtlinie 91/680/EWG vom 16. Dezember 1991 (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften ―ABlEG― Nr. L 376/1), ergeben sich hieraus keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Spielgerätesteuerbescheides. Diese Fragen sind durch die höchstrichterliche Rechtsprechung geklärt (BFH-Urteil vom 26. Juni 1996 II R 47/95, BFHE 180, 497, BStBl II 1996, 538; Beschluss des BVerfG vom 1. März 1997 2 BvR 1599/89 u.a., Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht ―NVwZ― 1997, 573; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts ―BVerwG― vom 22. Dezember 1999 11 CN 1.99, Deutsches Verwaltungsblatt ―DVBl― 2000, 910, und 11 CN 3.99, DVBl 2000, 913).

b) Soweit sich die Antragstellerin unter Hinweis auf den Beschluss des BVerfG vom 3. Mai 2001 1 BvR 624/00 darauf beruft, die Spielgerätesteuer verstoße wegen Anwendung eines Pauschalmaßstabes (Steuer pro Spielgerät) anstelle eines von Verfassungs wegen gebotenen, an den individuellen Einnahmen anknüpfenden Maßstabes (Wirklichkeitsmaßstab) gegen Art. 3 GG, vermag dies ebenfalls nicht zur AdV des Bescheides in vollem Umfang zu führen. Denn konkrete Tatsachen, die insoweit ernstliche Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des SpStG HH begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere gibt es keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Gründe, die die bisherige pauschale Besteuerung von Spielautomaten unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 GG rechtfertigten, nämlich Praktikabilität sowie sichere und gleichmäßige Steuererhebung (vgl. hierzu auch Beschluss des BVerfG vom 1. April 1971 1 BvL 22/67, BVerfGE 31, 8, 25 f.), nunmehr entfallen sind. Dass die Frage der Notwendigkeit der Pauschalbesteuerung von den Gesetz- bzw. Verordnungsgebern "für die zukünftige Besteuerung" zu prüfen ist, vermag noch nicht ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts i.S. des § 69 Abs. 2 Sätze 1 und 2, Abs. 3 Satz 1 FGO zu begründen.

4. Die (teilweise) AdV ist nach § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 FGO auch von einer Sicherheitsleistung abhängig zu machen. Durch die Verknüpfung mit einer Sicherheitsleistung sollen Steuerausfälle bei einem für den Steuerpflichtigen ungünstigen Verfahrensausgang vermieden werden (BFH-Beschluss vom 18. Dezember 2000 VI S 15/98, BFH/NV 2001, 637). Die Gefahr von Steuerausfällen kann insbesondere aufgrund der wirtschaftlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen bestehen (BFH-Beschluss vom 17. Januar 1996 V B 100/95, BFH/NV 1996, 491). Der BFH folgt im Ergebnis der Auffassung des FG, welches die Anordnung einer Sicherheitsleistung für erforderlich gehalten hat. Denn im Streitfall gibt es Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Steueranspruchs, soweit die Antragstellerin, deren Haftung auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist, sich darauf beruft, ihre wirtschaftliche Leistungs- und Überlebensfähigkeit werde u.a. als Folge der Erhebung der Spielgerätesteuer gefährdet.

Liegen Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Steueranspruchs vor, ist es Sache der Antragstellerin, Umstände darzulegen und glaubhaft zu machen, die eine AdV ohne Sicherheitsleistung rechtfertigten (vgl. zuletzt BFH-Beschlüsse vom 28. August 1989 X S 13/88, BFH/NV 1990, 310, und vom 31. Januar 1997 X S 11/96, BFH/NV 1997, 512, m.w.N.). Dies hat die Antragstellerin nicht getan. Sie hat weder dargelegt, dass der Spielgerätesteuerbescheid mit Sicherheit oder großer Wahrscheinlichkeit rechtswidrig ist (BFH-Beschluss in BFH/NV 2001, 637), noch konkret behauptet, im Rahmen zumutbarer Anstrengungen nicht in der Lage zu sein, Sicherheit z.B. durch Bankbürgschaft zu leisten (Beschlüsse des BFH in BFH/NV 1990, 310, und vom 13. August 1991 VIII B 14/87, BFH/NV 1992, 688, m.w.N.).

 

Fundstellen

Haufe-Index 665960

BFH/NV 2002, 508

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