Zusammenfassung

 
Begriff

Verwirkung ist nach einer allgemein anerkannten, von der Rechtsprechung entwickelten Definition dann gegeben, wenn ein Beteiligter am Steuerschuldverhältnis es nach einer gewissen Zeit als illoyales Verhalten empfinden muss, wenn die Gegenseite ein Recht noch geltend macht.

Das Rechtsinstrument der Verwirkung mag vielleicht nicht von zentraler Bedeutung für das deutsche Steuerrecht sein, es stellt vielmehr sicherlich einen seltenen Ausnahmefall dar. Gleichwohl sollte angesichts von teilweise überlangen Verfahrensdauern und einer immer komplexeren Steuergesetzgebung im Einzelfall durchaus von Steuerpflichtigen und ihren Beratern geprüft werden, ob nicht die Verwirkung zum Tragen kommen kann.

Nachfolgend werden deshalb die Voraussetzungen und die Wirkungsweise der Verwirkung im Steuerrecht dargestellt. Besondere Bedeutung kommt dabei der Rechtsprechung des BFH zu, da nur aus den jeweiligen Einzelfällen ersichtlich ist, in welchen Fallgestaltungen eine Verwirkung in Betracht kommen kann.

 
Gesetze, Vorschriften und Rechtsprechung

Eine gesetzlich normierte Grundlage gibt es für die Verwirkung weder im Steuerrecht noch im Zivilrecht. Vielmehr ist dieses Rechtsinstitut ein Ausfluss des allgemeinen Grundsatzes von Treu und Glauben, der in § 242 BGB normiert ist und auch im Steuerrecht Anwendung findet[1]. Verwirkung kommt nahezu in allen Gebieten des privaten oder öffentlichen Rechts in Betracht. Die Grundsätze der Verwirkung im Steuerrecht haben sich hierbei durch die Rechtsprechung herausgebildet.[2]

[1] Grüneberg, in Grüneberg, BGB, § 242 BGB Rz. 1ff.; speziell zur Verwirkung Rz. 87ff., 82. Aufl. 2023.

1. Rechtsgrundlagen

1.1 Voraussetzungen

Als allgemeine Voraussetzungen für eine Verwirkung haben sich im Steuerrecht durch Entscheidungen die folgenden drei Voraussetzungen herausgebildet[1]:

  • Es muss ein beachtsamer Zeitablauf gegeben sein.
  • Es muss seitens der Finanzverwaltung ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sein.
  • Der Steuerpflichtige muss aufgrund des Vertrauenstatbestands Dispositionen getroffen haben.

Teilweise werden als weitere Voraussetzungen die Rechtskenntnis und Rechtsausübungsmöglichkeit sowie ein Verstoß gegen Treu und Glauben im jeweiligen Einzelfall genannt.[2] Diese weiteren Voraussetzungen sind indes nicht erforderlich, da die Rechtskenntnis und die Rechtsausübungsmöglichkeit Untervoraussetzungen des Vertrauenstatbestandes sind, da ohne diese Kenntnis bzw. Möglichkeit ein Vertrauen seitens des Steuerpflichtigen nicht bestehen kann. Ein Verstoß gegen Treu und Glauben im jeweiligen Einzelfall als besondere Voraussetzung ist zudem deswegen überflüssig, da es sich bei der Verwirkung – wie oben angeführt – stets um einen Ausfluss von Treu und Glauben handelt.[3]

Derjenige, der sich auf die Verwirkung beruft, im Regelfall der Steuerpflichtige[4], muss die Verwirkung im steuerlichen Verfahrensrecht nicht geltend gemacht haben. Die Verwirkung ist vielmehr von Amts wegen zu berücksichtigen, was sie mit der Verjährung im steuerlichen Verfahrensrecht verbindet.[5] Dies ist insofern von Bedeutung, als es insbesondere keiner Verwirkungserklärung bedarf, damit eine Verwirkung wirksam werden kann.

[1] So ausdrücklich BFH, Urteil v. 14.10.2003, VIII R 56/01, BStBl 2004 II S. 123 (125); BFH, Beschluss v. 4.7.2007, VII B 39/07, BFH/NV 2007 S. 2062; Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 169; Gersch, in Klein, AO, § 4 AO Tz. 43, 16. Aufl. 2022.
[2] So wohl Koenig, in Koenig, AO, § 4 AO Tz. 45, 4. Aufl. 2021.
[3] Pahlke, in Schwarz/Pahlke, AO/FGO, § 4 AO Rz. 56; Koenig, in Koenig, AO, § 4 AO Rz. 45, 4. Aufl. 2021.
[4] Es ist indes auch denkbar, dass sich die Verwaltung auf die Verwirkung beruft; dies könnte etwa bei Rückforderungsansprüchen der Fall sein, wenngleich dies wohl eher ein theoretischer Fall sein dürfte; Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 176.
[5] Drüen, in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 4 AO Tz. 169.

1.2 Abgrenzung zu anderen Rechtsinstituten

Die Verwirkung ist insbesondere abzugrenzen von der Verjährung. Mit dieser hat sie das Zeitmoment gemeinsam, gleichwohl unterscheidet sie sich von der Verjährung doch erheblich. Während bei der Verjährung nämlich nach Ablauf einer gesetzlich bestimmten Frist im Steuerrecht eine bestimmte Folge eintritt, nämlich das Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis (vgl. § 47 AO), müssen bei einer Verwirkung weitere Voraussetzungen erfüllt sein.[1] Insbesondere das Vertrauen, welches bei der Verwirkung von zentraler Bedeutung ist, spielt bei der Verjährung keine Rolle. Zudem sind die Rechtsfolgen andere, da die Verwirkung nicht zum Erlöschen des Anspruchs führt.

Von einem stillschweigenden Verzicht unterscheidet sich die Verwirkung hingegen, dass es bei einem solchen stets einer – wenn auch stillschweigenden – Zustimmung des Betroffenen bedarf. Demgegenüber kann eine Verwirkung auch gegen den Willen des Betroffenen – im Steuerrecht meist der Finanzverwaltung – in Betracht kommen.

[1] Banniza, in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO und FGO, vor § 169 AO Tz. 4.

1.3 Gegenstand der Verwirkung

Verwirkt werden können n...

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