Leitsatz

Bei der im Aussetzungsverfahren nach § 69 Abs. 3 FGO gebotenen summarischen Prüfung begegnet die in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelte Höhe von Nachzahlungszinsen von einhalb Prozent für jeden vollen Monat jedenfalls ab dem Verzinsungszeitraum 2015 schwerwiegenden verfassungsrechtlichen Zweifeln.

 

Normenkette

§ 233a, § 238, § 152 Abs. 5 AO, Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG, Art. 97 § 8 Abs. 4 Satz 1 EGAO, § 69 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 FGO, § 4 Abs. 5b, § 12 Nr. 3 EStG, § 10 Nr. 2 KStG, § 247 BGB, § 253 Abs. 2 HGB, Art. 13 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. b Doppelbuchst. dd KAG BY, Art. 75 Abs. 6, Abs. 7 HGBEG

 

Sachverhalt

Nach einer Außenprüfung erfasste das FA bei den Klägern erstmals im Streitjahr 2009 einen Gewinn gemäß § 17 EStG in Millionenhöhe. Nach Verrechnung mit Erstattungszinsen wegen anderer rückgängig gemachter Besteuerungsgrundlagen setzte es Nachzahlungszinsen für den Zeitraum vom 1.4.2015 bis zum 16.11.2017 i.H.v. rund 240.000 EUR fest. Die Kläger haben dagegen Einsprüche eingelegt, über die noch nicht entschieden ist. Das FG (FG Köln, Beschluss vom 29.1.2018, 15 V 3279/17, Haufe-Index 11550034) hatte die AdV abgelehnt. Es überwiege das öffentliche Vollzugsinteresse.

 

Entscheidung

Der BFH hat die ablehnenden Entscheidungen des FA und des FG aufgehoben und AdV bewilligt. Das Aussetzungsinteresse der Kläger wiege schwerer als das öffentliche Vollzugsinteresse. Zum einen seien die verfassungsrechtlichen Zweifel gravierend. Zum andern habe der Gesetzgeber bereits an anderer Stelle auf das anhaltende Niedrigzinsumfeld reagiert, die Höhe der gesetzlichen Zinsen jedoch bewusst unangetastet gelassen. Dadurch sei das Interesse an einer geordneten Haushaltsführung geschwächt.

 

Hinweis

Erstmals hat der BFH ernstliche Zweifel an der Verfassungsgemäßheit der gesetzlichen Zinshöhe ge­äußert und AdV gewährt.

1. Zeitlicher Anwendungsbereich: Der vom IX. Senat entschiedene Fall betrifft den Zeitraum nach dem 1.4.2015 (der Leitsatz hat überschießende Tendenz: ab dem VZ 2015).

a) Zuvor hatte der III. Senat für das Jahr 2013 entschieden, dass er von der Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe nicht überzeugt sei (BFH, Urteil vom 9.11.2017, III R 10/16, BFH/NV 2018, 462, mit Anm. GörkeBFH/PR 2018, 121, BFHE 260, 9, BStBl II 2018, 255). Auch der IX. Senat hatte sich für weiter zurückliegende Zeiträume (noch) nicht die erforderliche Überzeugung von der Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe bilden können (BFH, Urteil vom 1.7.2014, IX R 31/13, BFH/NV 2014, 1804, mit Anm. RatschowBFH/PR 2014, 448: Zeiträume bis zum 21.3.2011, BStBl II 2014, 925; BFH, Urteil vom 14.4.2015, IX R 5/14, BFH/NV 2015, 1711, mit Anm. Ratschow BFH/PR 2016, 20: Zeiträume bis Dezember 2011, BStBl II 2015, 986).

b) Auf den Zeitraum kommt es an, weil der Gesetzgeber nicht auf jede tatsächliche Veränderung sofort reagieren muss, sondern weil ihm eine angemessene Zeit zur Beobachtung und Vorbereitung einer Reaktion einzuräumen ist. Dazu äußert sich der Senat nicht. Er hält diese Zeit aber offenbar seit April 2015 für verstrichen.

2. Vergleichsgrößen: Der Ausgang der Prüfung hängt maßgeblich davon ab, mit welchen Zinsen man den gesetzlichen Zins vergleicht. Der III. Senat (s.o.) hat jüngst u.a. ungesicherte Konsumentenkredite zum Vergleich herangezogen. Als Gläubiger sei auch das FA i.d.R. ungesichert. So hatte auch der IX. Senat in seinen Entscheidungen von 2014 und 2015 argumentiert. Nun bezeichnet er diesen Vergleich als unzulässig und die Zinsen für ungesicherte Konsumentenkredite als "Sonderfaktoren". Entscheidend sei, dass ein typisierter "Zinsvorteil" von 6 % nicht abgeschöpft werden dürfe, wenn es unmöglich sei ihn zu erzielen.

3. Anlass: Der IX. Senat geht von einem strukturellen und nachhaltig niedrigen Zinsniveau aus. Er stützt sich dabei auf einen Bericht der Deutschen Bundesbank. Soll heißen: Die aktuellen Niedrigzinsen sind keine konjunkturbedingte Gegebenheit, sondern sie werden gemacht. Der Befund, wenn man ihn denn teilt, erhöht sicherlich den Druck auf den Gesetzgeber, die Zinshöhe kurzfristig anzupassen.

4. Beim BVerfG sind bereits einige Fälle anhängig, in denen § 238 AO zur Prüfung steht. Es gibt Hinweise, dass das BVerfG in die Prüfung einsteigen wird. Unabhängig davon sollte der Gesetzgeber nicht länger untätig bleiben. Die Lage der öffentlichen Kassen spräche sicher nicht dagegen.

 

Link zur Entscheidung

BFH, Beschluss vom 25.4.2018 – IX B 21/18

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