Leitsatz

1. Hat der Insolvenzverwalter Kenntnis davon, dass der Insolvenzschuldner eine selbständige Tätigkeit ausübt, oder war eine solche Tätigkeit für ihn erkennbar, ist er in einem nach dem 30.06.2007 eröffneten Insolvenzverfahren gemäß § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO verpflichtet, unverzüglich zu erklären, ob er die Tätigkeit aus der Insolvenzmasse freigibt oder nicht.

2. Verletzt der Insolvenzverwalter diese Pflicht, führt sein pflichtwidriges Unterlassen dazu, dass Verbindlichkeiten "in anderer Weise" i.S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO begründet werden (Fortführung der BFH-Urteile vom 18.05.2010 – X R 11/09, BFH/NV 2010, 2114; vom 01.06.2016 – X R 26/14, BFHE 253, 518, BStBl II 2016, 848; vom 06.06.2019 – V R 51/17, BFHE 265, 294).

3. Eine formfrei mögliche Freigabeerklärung wirkt grundsätzlich erst ab ihrem Zugang beim Insolvenzschuldner (ex nunc). Die Überleitung der Vertragsverhältnisse, die der selbständigen Tätigkeit des Schuldners dienen, wirkt nicht auf Forderungen und Verbindlichkeiten zurück, soweit diese vor Wirksamwerden der Erklärung entstanden sind (Anschluss an das BGH-Urteil vom 21.02.2019 – IX ZR 246/17, BGHZ 221, 212).

 

Normenkette

§ 35 Abs. 2 und 3, § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, § 1 Abs. 1 Nr. 1, § 13a Abs. 1 Nr. 1 UStG.

 

Sachverhalt

Der Kläger ist Insolvenzverwalter über das Vermögen des Insolvenzschuldners A. A war im Streitjahr (2012) als Unternehmer tätig.

Der Kläger erklärte in seiner Funktion als vorläufiger Insolvenzverwalter während des vorläufigen Insolvenzverfahrens im Insolvenzgutachten vom 16.10.2012, es liege Zahlungsunfähigkeit vor. Er führte u.a. aus, dass aufgrund der stabilen Auftragslage des A zu erwarten sei, dass diese Tätigkeit fortgeführt werden könne. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens werde die Tätigkeit allerdings aus der Masse freigegeben werden, sodass sich die Einnahmen der Masse auf einen von A an ­den Insolvenzverwalter abzuführenden Geldbetrag (500 EUR für Kleinwerkzeuge und Maschinen) beschränkten.

Am 22.10.2012 wurde das Insolvenzverfahren eröffnet. Der Kläger erklärte mit Schreiben an A vom 16.1.2013, er gebe die selbstständige Tätigkeit aus der Insolvenzmasse frei. Mit Schreiben vom 11.3.2013 wurde dies vom Kläger dem Insolvenzgericht mitgeteilt und vom Insolvenzgericht am 13.3.2013 veröffentlicht.

In der Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr erklärte der Kläger Umsätze des A in Höhe von 0 EUR. A reichte keine eigene Umsatzsteuererklärung ein.

Das FA setzte gegenüber dem Kläger als Insolvenzverwalter Umsatzsteuer mit geschätzten Besteuerungsgrundlagen fest. Es ging davon aus, dass A im Streitjahr Umsätze ausgeführt habe, die seit dem 22.10.2012 gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO Masseverbindlichkeiten seien. Die Freigabe der unternehmerischen Tätigkeit des A aus der Insolvenzmasse sei erst am 16.1.2013 erfolgt, sodass die Umsatzsteuer des Jahres 2012 eine Masseverbindlichkeit sei. Der Einspruch blieb erfolglos.

Die Klage hatte Erfolg (Sächsisches FG, Urteil vom 20.10.2017, 6 K 75/16, EFG 2020, 548). Das FG nahm an, dass auch wenn ein Insolvenzverwalter keine Erklärung i.S.d. § 35 Abs. 2 Satz 1 InsO abgebe, die Voraussetzungen des § 55 Abs. 1 InsO nicht erfüllt seien.

 

Entscheidung

Der BFH hob die Vorentscheidung auf und verwies den Rechtsstreit an das FG zurück, das nun prüfen muss, ob der Kläger die selbstständige Tätigkeit des A erkennen konnte und ob vor dem 16.1.2013 eine Freigabe erfolgt ist, wie der Kläger behauptet hat.

 

Hinweis

1. Ob eine Verbindlichkeit Masseverbindlichkeit ist, hat auch Auswirkungen auf die Steuerschulden, die der Insolvenzschuldner während des Insolvenzverfahrens durch sein Handeln neu begründet. Ist das insolvenzfreie Vermögen betroffen, ist die Steuer gegen den Insolvenzschuldner festzusetzen. Handelt es sich um eine Masseverbindlichkeit, erfolgt die Festsetzung quasi gegen "die Masse" (vertreten durch den Insolvenzverwalter).

2. Seit Mitte 2007 muss der Insolvenzverwalter gemäß § 35 Abs. 2 InsOunverzüglich formfrei erklären, ob er dessen selbstständige Tätigkeit, die er kennt oder erkennen kann, freigibt oder nicht. Eine Freigabeerklärung wird aber erst mit ihrem Zugang beim Insolvenzschuldner wirksam.

Verletzt der Insolvenzverwalter seine Pflicht zur unverzüglichen Abgabe einer solchen Erklärung, entstehen Masseverbindlichkeiten (vgl. BFH, Urteil vom 18.5.2010, X R 11/09, BFH/NV 2010, 2114; BFH, Urteil vom 6.6.2019, V R 51/17, BFH/NV 2020, 63). Im Ergebnis wirkt das Schweigen des Insolvenzverwalters damit wie eine Erklärung, dass (noch) keine Freigabe erfolgt.

3. Der Zugang der Freigabeerklärung beim Insolvenzschuldner hat außerdem keine Rückwirkungauf Verbindlichkeiten, die vor Wirksamwerden der Freigabeerklärung entstanden sind (BGH, Urteil vom 21.2.2019, IX ZR 246/17, BGHZ 221, 212, Rz. 21).

 

Link zur Entscheidung

BFH, Urteil vom 18.12.2019 – XI R 10/19

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge