Rz. 115f

Sind die materiellen Voraussetzungen der Steuerbefreiung nach § 6a Abs. 1 S. 1 UStG in objektiver Hinsicht erfüllt, ist die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen zu versagen, wenn der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass die von ihm bewirkten Umsätze mit einer Steuerhinterziehung in der Lieferkette, insbesondere des Erwerbers verknüpft sind.[1] Diese Voraussetzung für die Gewährung der Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 1b UStG i. V. m. § 6a UStG bzw. ihre Versagung, wie sie mit Einfügung des § 25f UStG durch das Gesetz v. 12.12.2019[2] mWv 1.1.2020 normiert wurde, stützt sich allein auf die Rechtsprechung des EuGH, die damit in nationales Recht umgesetzt worden ist; eine unionsrechtliche gesetzliche Norm hierzu fehlt. Jedoch sind die EU-Mitgliedstaaten verpflichtet, die Rechtsprechung des EuGH (bereits vor Inkrafttreten von § 25f UStG) bei der Auslegung von Unionsrecht anzuwenden.

 

Rz. 115g

Nach der st. Rechtsprechung des EuGH ist die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung auf der Grundlage des Unionsrechts zu versagen, wenn der Lieferer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch seine Lieferung an einer im Rahmen der Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt. Ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt, kann sich für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen.[3] Dies ist nicht nur der Fall, wenn der Steuerpflichtige selbst eine Steuerhinterziehung begeht, sondern auch dann, wenn der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er mit seinem Erwerb an einem Umsatz teilnahm, der in eine Mehrwertsteuerhinterziehung einbezogen war.[4]

 

Rz. 115h

Außerdem verstößt es nach der Rechtsprechung des EuGH nicht gegen das Unionsrecht, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt.[5] Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diese zu verhindern, muss ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden.[6] Dies steht im Einklang mit der sich aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen.[7]

[2] BGBl I 2019, 2151.
[5] Vgl. z. B. zur Versagung des Vorsteuerabzugs EuGH-Urteile Vikingo Fővállalkozó, EU:C:2020:673, Rz. 54; Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz. 28.
[6] EuGH-Urteile Euro Tyre, EU:C:2017:106, Rz. 40; Cartrans Spedition, EU:C:2018:887, Rz. 41.
[7] EuGH-Urteile Paper Consult vom 19.10.2017 – C-101/16, EU:C:2017:775, Rz. 43 und 47; M.A.S. und M.B. vom 5.12.2017 – C-42/17, EU:C:2017:936, Rz. 30 ff.

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