Rz. 56

§ 1 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG verwendet den Begriff der Leistung nicht, sondern definiert die Vorgänge, die unter das UStG fallen mit den umsatzsteuerrechtlichen Begriffen der Lieferung und sonstigen Leistung. Die Lieferung ist dabei über § 3 Abs. 1 UStG definiert und erfasst die Verschaffung der Verfügungsmacht über einen Gegenstand. Lieferungen stellen einen Teilbegriff der "Leistungen" dar, da ausdrücklich festgelegt wird, dass "Lieferungen … Leistungen sind…". Die sonstige Leistung ist selbst nicht positiv definiert, sondern ausschließlich über die Umkehrdefinition des § 3 Abs. 9 S. 1 UStG. Danach liegt eine sonstige Leistung vor, wenn eine Leistung ausgeführt wird, die keine Lieferung darstellt. Dadurch ist im Umkehrschluss festgelegt, dass der Begriff der Leistung abschließend und vollständig durch die Unterbegriffe "Lieferung" und "sonstige Leistung" umschrieben wird. Im übertragenen Sinne könnte dies mathematisch wie folgt ausgedrückt werden:

  • Leistung = Lieferung + sonstige Leistung
  • sonstige Leistung = Leistung ./. Lieferung
  • Lieferung = Leistung ./. sonstige Leistung
 

Rz. 57

Die Verwendung der Begriffe Lieferung und sonstige Leistung anstelle des Oberbegriffs der Leistungen hat historische Gründe: Die Vorläufer des Umsatzsteuerrechts bezogen in die Besteuerung nur die Lieferungen mit ein. Erst im UStG 1918[1] wurde neben der Lieferung auch der Steuertatbestand der sonstigen Leistung mit aufgenommen. Darüber hinaus ergeben sich in den folgenden Vorschriften des UStG erhebliche Differenzierungen in Definition und Rechtsfolge der beiden unterschiedlichen Leistungstatbestände, sodass es zielführend ist, diese Differenzierung gleich in dem Haupttatbestand mit aufzunehmen.

 

Rz. 58

Der insoweit nicht näher bestimmte Begriff der Leistung ist damit ein Oberbegriff, der notwendigerweise inhaltlich erfüllt sein muss, um zu einem steuerbaren Umsatz nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG zu kommen. Auch das Unionsrecht definiert den Begriff der Leistung nicht näher, sondern bestimmt den Anwendungsbereich des Mehrwertsteuerrechts (u. a.) gleich über die Begriffe der Lieferung und der Dienstleistung.

 

Rz. 59

Die Abgrenzung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung führt in der Praxis zu erheblichen Schwierigkeiten und beschäftigt auch intensiv die Rechtsprechung. Diese Abgrenzungsschwierigkeiten haben keinen unmittelbaren Einfluss auf die Anwendung des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, da sowohl Lieferungen als auch sonstige Leistungen gleichermaßen in den Anwendungsbereich der Norm fallen. Mittelbar sind die Abgrenzungen aber auch für die Festlegung des steuerbaren Umsatzes entscheidend, da – insbesondere bei grenzüberschreitenden Umsätzen – die Festlegung des Orts der Leistung in Abhängigkeit des Leistungstatbestands nach unterschiedlichen Kriterien erfolgt.

 
Praxis-Beispiel

Abgrenzung der Leistungstatbestände zur Festlegung der Steuerbarkeit

Unternehmer U repariert für einen deutschen Auftraggeber (Unternehmer) eine Maschine in Polen. U verwendet bei der Ausführung der Leistung auch Material.

Unmittelbar erscheint es für die Festlegung der Steuerbarkeit unerheblich, ob es sich bei der ausgeführten Leistung um eine Werklieferung (= Lieferung) oder eine Werkleistung (= sonstige Leistung) handelt, da sowohl die Lieferung als auch die sonstige Leistung in den Anwendungsbereich des § 1 Abs. 1 Nr. 1 S. 1 UStG fällt. Für die Prüfung des räumlichen Anwendungsbereichs muss aber festgestellt werden, ob die Leistung im Inland ausgeführt ist oder nicht. Handelt es sich bei der ausgeführten Leistung um eine Werklieferung nach § 3 Abs. 4 UStG, ist der Ort der Lieferung dort, wo sich das von U verwendete Material zum Zeitpunkt der Verschaffung der Verfügungsmacht befindet, sich die ausgeführte Leistung also bei Abnahme befindet (= Polen, § 3 Abs. 7 S. 1 UStG), der Umsatz wäre im Inland nicht steuerbar. Würde es sich um eine Werkleistung handeln, wäre der Ort der sonstigen Leistung nach § 3a Abs. 2 S. 1 UStG dort, wo der Leistungsempfänger sein Unternehmen betreibt (= Deutschland), die Leistung ist dann im Inland ausgeführt und steuerbar. Ob es sich um eine Werklieferung oder Werkleistung handelt, ist jeweils im Einzelfall zu bestimmen und ist insbesondere davon abhängig, ob das Material aus der Sicht eines Durchschnittsbetrachters das Wesen der Leistung bestimmt.[2]

[1] UStG 1918 v. 26.7.1918, RGBl 1918, 779.
[2] Vgl. dazu Abschn. 3.8 UStAE, insbesondere die mit Wirkung v. 1.1.2013 eingeführte Nichtbeanstandungsregelung zur Reparatur von beweglichen Gegenständen in Abschn. 3.8 Abs. 6 UStAE.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Finance Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge