Tenor

1. Die Verfahren IX 427/90 und IX 437/90 werden zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden.

2. Die Verfahren werden ausgesetzt.

3. Die Sachen werden dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung darüber vorgelegt, ob § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes 1986 i.d.F. der Bekanntmachung vom – 15. April 1986 (BGBl I 441) – EStG 1986 – sowie § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 a Abs. 5 des Einkommensteuergesetzes 1987 i.d.F. der Bekanntmachung vom 27. Februar 1987 (BGBl I 657) – EStG 1987 –, also die Grundfreibeträge für die Einkommensteuer-Veranlagungszeiträume 1986 (4.536 DM) und 1988 (4.752 DM) mit den Grundgesetz Insoweit vereinbar sind, als sie nach Höhe und Ausgestaltung nicht ausreichen, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen einkommensteuerfrei zu stellen.

 

Tatbestand

I.

Die Kläger sind Eheleute. Die Klägerin ist Arbeitnehmerin, der Kläger ist Gewerbetreibender. Sie wurden in den Streitjahren 1986 und 1988 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Mit den Einkommensteuerbescheiden 1986 und 1988 setzte der Beklagte (das Finanzamt – FA –) das zu versteuernde Einkommen der Kläger und die darauf entfallende Einkommensteuer wie folgt fest:

Streitjahr

zu versteuerndes Einkommen

Einkommensteuer nach Splittingtabelle

1986

110.835 DM

34.128 DM

1988

126.414 DM

37.281 DM.

Die Kläger klagen – nach Durchführung der notwendigen Vorverfahren – gegen die Einkommensteuerfestsetzungen 1986 und 1988 wegen unzureichender Höhe der gesetzlichen Grundfreibeträge in den jeweiligen Streitjahren. Die zu niedrigen Grundfreibeträge führten dazu, daß die Besteuerung auch jenen Teil Ihres Einkommens erfasse, der der Abdeckung Ihres Existenzminimums diene. Auf diese Weise schöpfe die Besteuerung einen Teil Ihres nicht frei verfügbaren Einkommens ab. Diese Übermaß-Besteuerung verletze ihre Grundrechte. Die Kläger errechnen für 1986 und 1988 anhand der sog. Regelsätze nach § 22 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) – ohne Mehrbedarfszuschläge – sowie eines „Grundsockelbetrages” für eine angemessene Wohnung (70 m², Mietpreis – kalt – monatlich 560 DM zuzüglich monatlich 70 DM Heizungskosten) jährliche Mindest-Grundfreibeträge von 16.000 DM bei Verheirateten. Im einzelnen:

1986

1988

a)

Regelsatz: 12 × 400 DM

4.800 DM

4.800 DM

Zuschlag für Ehegatten 12 X 320 DM

3.840 DM

3.840 DM

8.640 DM

8.640 DM

b)

Wohnung: 70 (m²) × 8 DM × 12

6.720 DM

6.720 DM

c)

Heizung: 70 (m²) × 1 DM × 12

840 DM

840 DM

16.200 DM

16.200 DM

abgerundet

16.000 DM

16.000 DM

gesetzliche Grundfreibeträge zusammengefaßt

9.072 DM

9.504 DM.

Die Kläger beantragen,

  1. die Einkommensteuer für 1986 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 1990 und Änderung des Steuerbescheids vom 14. Mai 1987 in der Fassung vom 18. Mai 1989 so weit herabzusetzen als sie sich mindert, wenn Grundfreibeträge von zusammen 16.000 DM berücksichtigt werden;
  2. die Einkommensteuer 1988 unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 18. Juli 1990 und Änderung des Steuerbescheids vom 12. März 1990 so weit herabzusetzen als sie sich mindert, wenn Grundfreibeträge von zusammen 16.000 DM berücksichtigt werden.

Das FA beantragt,

die Klagen abzuweisen.

Das FA hält die Grundfreibeträge unter Verweis auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 8. Juni 1990 (III R 14–16/90, BStBl II 1990, 969, BFHE 161, 109) nicht für verfassungswidrig.

Die Beteiligten haben, übereinstimmend auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Der Senat hat die Verfahren IX 427/90 und IX 437/90 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden (§ 73 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).

 

Entscheidungsgründe

II.

Der Senat setzt die Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) aus und legt die Sachen dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Entscheidung darüber vor, ob § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 a Abs. 5 EStG 1986 sowie § 32 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 in Verbindung mit § 32 a Abs. 5 EStG 1987, also die Grundfreibeträge für die Einkommensteuer-Veranlagungszeiträume 1986 (4.536 DM) und 1988 (4.752 DM) mit dem Grundgesetz insoweit vereinbar sind, als sie nach Höhe und Ausgestaltung nicht ausreichen, das Existenzminimum des Steuerpflichtigen einkommensteuerfrei zu stellen.

Der Senat hält die genannten Vorschriften für verfassungswidrig, weil sie seiner Ansicht nach gegen das aus Art. 3 Abs. 1 GG entwickelte Gebot der Steuergerechtigkeit unter Berücksichtigung des Gebots des Schutzes der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und des Gebots der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1 GG) verstoßen.

An seiner im Urteil vom 28. Februar 1990 (IX 741/89) vertretenen (abweichenden) Rechtsauffassung hält der Senat nicht mehr fest. Das Urteil betraf die Einkommensteuer-Veranlagung der Kläger für 1987. Die Revision dagegen ist beim BFH unter dem Aktenzeichen III R 99/90 anhängig.

III.

1. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit der angeführten Vorschriften ist für den vorliegenden Fall entscheidungserheblich.

Der Einkommensbesteuerung der Kläger Hegen d...

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