Entscheidungsstichwort (Thema)

Masseforderung i.S.d. § 209 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO – Begriff des Könnens – Bedingung im Interessenausgleich

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Die Sozialauswahl bei betriebsbedingten Kündigungen auch in einem Insolvenzverfahren richtet sich zunächst nach § 1 Abs. 3 KSchG. Ein Interessenausgleich nach § 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO führt jedoch im Individualprozess dazu, dass die Auswahl der Arbeitnehmer nur im Hinblick auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter und die Unterhaltspflicht überprüft wird, und zwar lediglich auf grobe Fehlerhaftigkeit. Letztere liegt vor, wenn die Gewichtung dieser drei Sozialkriterien jedwede Ausgewogenheit vermissen lässt.

2. Sobald Masseunzulänglichkeit droht oder eintritt, muss der Insolvenzverwalter Arbeitsverhältnisse, die für die Abwicklung des masseunzulänglichen Verfahrens nicht mehr benötigt werden, unverzüglich kündigen. Für die früheste Kündigungsmöglichkeit ist dabei die objektive Lage entscheidend. Der Begriff des „Könnens” in § 209 Abs. 2 Nr. 2 InsO meint nicht ein tatsächliches, sondern ein rechtliches Können.

 

Normenkette

BGB § 615; InsO §§ 9, 113 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Nr. 2, § 209 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2; KSchG § 1 Abs. 3

 

Verfahrensgang

ArbG Stuttgart (Urteil vom 29.01.2004; Aktenzeichen 28 Ca 3441/03)

 

Tenor

1 Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Ar beitsgerichts Stuttgart vom 29.01.2004 (Az.: 28 Ca 3441/03) abgeändert:

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger Arbeitsver gütung für die Zeit vom 01.07.2003 bis zum 30.09.2003 zu bezahlen in Höhe von 79,77 EUR vermögenswirksame Leistungen sowie 6.732,00 EUR brutto abzüglich Arbeitslo sengeld in Höhe von 2.741,60 EUR zuzüglich Zinsen in Hö he von 5-Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 13.10.2003.

2. Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen.

3. Der Beklagte trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.

Die Kosten der ersten Instanz tragen der Kläger zu 1/4, der Beklagte zu 3/4.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer Kündigung des Beklagten vom 21.03.2003 und über Vergütungsansprüche.

Der am 23.01.1947 geborene, verheiratete und einem Kind unterhaltsverpflichtete Kläger war seit dem 01.08.1973 für die Insolvenzschuldnerin und deren Rechtsvorgänger als Fertigungskraft in der Betriebsabteilung Bohren/Fräsen gegen ein durchschnittliches Entgelt von mindestens 2.210,00 EUR monatlich tätig (Beklagte zuletzt: 2.445,82 EUR). Die Insolvenzschuldnerin befasste sich mit der Entwicklung und der Herstellung sowie dem Vertrieb von elektronischen Systemen und Technologieprodukten, insbesondere von hochlagigen und komplexen Leiterplatten.

Nach Anordnung von Sicherungsmaßnahmen durch Beschluss des Amtsgerichts Stuttgart vom 06.06.2002 wurde am 01.09.2002 das Insolvenzverfahren eröffnet und der Beklagte zum Insolvenzverwalter ernannt. Die Anzeige der Masseunzulänglichkeit durch den Beklagten mit Schreiben vom 16.09.2002 ist zwischen den Parteien streitig. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beschloss der Beklagte, die betriebliche Organisation und die Arbeitsabläufe zu straffen und 346 von 838 Arbeitskräften abzubauen. Am 18.09.2002 wurde der Kläger von der Arbeit freigestellt. Am 07.11.2002 schloss der Beklagte mit dem Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich und Sozialplan (Blatt 24 bis 35 der erstinstanzlichen Akte). In Anlage 1 zu dieser Betriebsvereinbarung sind alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aufgeführt, deren Arbeitsverhältnis gekündigt werden soll, darunter der Kläger. Im Interessenausgleich der Vereinbarung vom 07.11.2002 ist aufgeführt, dass der Geschäftsbetrieb in erheblich eingeschränktem Umfang zunächst befristet bis zum 31.01.2003 fortgeführt werden soll. Weiter ist niedergelegt, dass der Betriebsrat zu allen Kündigungen ordnungsgemäß angehört und beteiligt worden und das Verfahren nach §§ 102 ff. BetrVG abgeschlossen ist. In IV. Nr. 1 (Inkrafttreten) der Vereinbarung vom 07.11.2002 haben die Betriebsparteien Folgendes niedergelegt:

Diese Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich und Sozialplan tritt mit ihrer Unterzeichnung in Kraft und gilt bis zur Zweckerreichung. Die Wirksamkeit dieses Interessenausgleichs und Sozialplans steht unter der auflösenden Bedingung, dass es dem Insolvenzverwalter gelingt, bei einem Geldinstitut den zur Fortführung des Geschäftsbetriebs dringend erforderlichen Kredit zu erhalten.

Am 17.03.2003 schlossen die Betriebsparteien eine weitere Vereinbarung (Blatt 45 und 46 der erstinstanzlichen Akte), die auszugsweise lautet:

  1. Der Zweck der Aufnahme der Bedingung in Ziff. IV Nr. 1 der Betriebsvereinbarung über einen Interessenausgleich und Sozialplan vom 07.11.2002, nämlich die Fortführung des Geschäftsbetriebs bis Januar 2003, wenn nicht sogar bis März 2003 zu gewährleisten, wurde erreicht.
  2. Die Beteiligten sind sich daher rechtstatsächlich einig, dass die Bedingung in Ziff. IV. Nr. 1 der Betriebsvereinbarung über einen Interessenausg...

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