Leitsatz

1. Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die nach Deutschland entsandt wurden und deshalb nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes unterliegen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-) Kindergeld nicht dem nach Deutschland entsandten Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil.

2. Erfüllt ein nach Deutschland entsandter Arbeitnehmer die in §§ 62 ff. EStG geforderten Voraussetzungen eines Kindergeldanspruchs, so wird sein Anspruch i.S. des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 durch den Wohnort ausgelöst, wenn er die Beschäftigung nur im Rahmen der Entsendung ausübt und auch sonst im Inland weder eine den deutschen Rechtsvorschriften unterliegende Erwerbstätigkeit ausübt noch eine Rente bezieht.

3. Besteht neben dem durch den Wohnort ausgelösten Anspruch eines Entsandten auf deutsches Kindergeld für dasselbe Kind und denselben Zeitraum Anspruch auf Familienleistungen in einem anderen Mitgliedstaat, der zugleich der Wohnsitzstaat der Kinder ist, so wird gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 der Anspruch auf deutsches Differenzkindergeld ausgeschlossen.

4. Werden bei einem kindergeldberechtigten Elternteil die Wohnsitzvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert, kann für diesen Elternteil die nach § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG erforderliche Identifikation analog § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG statt durch Identifikationsnummer auch in anderer geeigneter Weise erfolgen.

 

Normenkette

§ 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG, Art. 12 Abs. 1, Art. 68 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009

 

Sachverhalt

Die Klägerin, eine polnische Staatsangehörige, lebte im Streitzeitraum mit ihren drei minderjährigen Kindern in Polen und war dort nicht erwerbstätig. Der Vater der Kinder ist ebenfalls polnischer Staatsbürger. Er war bei einer polnischen Firma beschäftigt, die ihn nach Deutschland entsandte, blieb jedoch in Polen sozialversichert.

Die Familienkasse lehnte die Gewährung von Kindergeld für Januar bis August 2015 ab, weil die Klägerin weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt und hier auch keine Erwerbstätigkeit ausgeübt habe. Den Einspruch wies sie als unbegründet zurück.

Das FG wies die Klage ab (Sächsisches FG, Urteil vom 10.7.2018, 1 K 1715/16 (Kg), Haufe-Index 13200323).

 

Entscheidung

Der BFH hob das FG-Urteil auf und verwies zurück, da das FG keine ausreichenden Feststellungen zur Anspruchsberechtigung des Kindsvaters, zu konkurrierenden Ansprüchen in Polen und zu den von der Klägerin zu erfüllenden nationalen Anspruchsvoraussetzungen getroffen hatte.

 

Hinweis

Das Besprechungsurteil zeigt, dass in Fällen mit Auslandsberührung nicht einfach zu beantworten ist, ob und in welcher Höhe deutsches Kindergeld zu zahlen ist und wem es zusteht.

1. Der Anspruch auf Kindergeld setzt voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz hat oder sonst nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 63 Abs. 1 EStG).

Wenn jemand danach Anspruch auf Kindergeld für Familienangehörige hat, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnen, dann wird fingiert, dass diese Angehörigen in Deutschland wohnen (Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009). Die Wohnsitzfiktion kann dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen nicht (nur) dem in Deutschland lebenden Berechtigten zusteht, sondern auch oder sogar nur dem tatsächlich ausschließlich im anderen Mitgliedstaat wohnenden Angehörigen (§ 64 Abs. 2, Abs. 3 EStG).

2. Die Wohnsitzfiktion nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gilt nicht nur, wenn Deutschland der vorrangig zuständige Mitgliedstaat ist, sondern auch dann, wenn Deutschland nachrangig zuständig ist und nur Differenzkindergeld zahlen muss (EuGH-Urteil Moser vom 18.9.2019 – C‐32/18, EU:C: 2019:752).

3. Wenn eine Person die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 EStG erfüllt, kann der Anspruch durch vorrangige Ansprüche für dieselben Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen sein. Die Prioritätsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004 stellen darauf ab, wodurch der Anspruch ausgelöst wird:

  • Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit,
  • Bezug einer Rente oder
  • (nur) Wohnort.

Bei Entsendung aus einem anderen Mitgliedstaat wird der Anspruch nur durch den inländischen Wohnort ausgelöst, wenn nicht zugleich eine inländische Rente bezogen wird. Eine Anspruchsauslösung durch den Wohnort liegt auch dann vor, wenn der deutsche Anspruch aufgrund einer fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG begründet wird (BFH, Urteil vom 22.2.2018, III R 10/17, BFH/NV 2018, 1035, BStBl II 2018, 717).

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