Rz. 82

Nach § 36a Abs. 7 EStG bleibt § 42 AO "unberührt". § 42 Abs. 1 S. 1 AO regelt, dass durch Missbrauch von rechtlichen Gestaltungsmöglichkeiten Steuergesetze nicht umgangen werden können. Nach § 42 Abs. 2 S. 1 AO liegt ein Missbrauch dann vor, wenn eine unangemessene rechtliche Gestaltung gewählt wird, die beim Stpfl. oder einem Dritten im Vergleich zu einer angemessenen Gestaltung zu einem gesetzlich nicht vorgesehenen Steuervorteil führt.

Ist der Tatbestand des § 36a EStG erfüllt, dann bestimmen sich gem. § 42 Abs. 1 S. 2 AO die Rechtsfolgen nach § 36a EStG. "Anderenfalls" entsteht nach § 42 Abs. 1 S. 3 AO der Steueranspruch beim Vorliegen eines Missbrauchs i. S. d. § 42 Abs. 2 AO so, wie er bei einer den wirtschaftlichen Vorgängen angemessenen rechtlichen Gestaltung entsteht.

 

Rz. 83

Zunächst sind also die Voraussetzungen des § 36a EStG zu prüfen. Für den Fall, dass die Anrechnungsvoraussetzungen nach § 36a Abs. 1 EStG nicht vorliegen, sind nach § 36a Abs. 1 S. 2 EStG 3/5 der KapESt nicht anzurechnen. Sollten die Anrechnungsvoraussetzungen dagegen erfüllt sein, kann nach dem Gesetzeswortlaut trotzdem nach § 36a Abs. 7 die Vorschrift des § 42 AO anwendbar sein. Ausweislich der Gesetzesbegründung wird durch § 36a Abs. 7 EStG klargestellt, dass § 42 AO auch dann anwendbar bleibt, wenn ein Stpfl. die Anforderungen für eine Anrechnung der KapESt bzw. eine Abstandnahme vom Steuerabzug oder eine Erstattung des Steuerabzugs nach § 36a Abs. 1 bis 5 EStG erfüllt.[1]

 

Rz. 84

Die Bestimmung des § 36a Abs. 7 EStG, wonach § 42 AO "unberührt" bleibt, widerspricht jedoch der Vorschrift des § 42 Abs. 1 S. 2 AO, die ausdrücklich anordnet, dass für den Fall, dass der Tatbestand einer Regelung in einem Einzelsteuergesetz erfüllt ist, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient – hier § 36a EStG –, sich die Rechtsfolgen nach jener Vorschrift bestimmen, d. h. nach § 36a EStG.[2] Vor dem Hintergrund, dass das Steuerrecht als Eingriffsrecht für den Stpfl vorhersehbar sein muss, ist kein Sachverhalt erkennbar, der trotz der Erfüllung der vielen komplexen Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 S. 1 EStG noch durch § 36a Abs. 7 EStG i. V. m. § 42 AO geregelt werden soll.[3]§ 36a Abs. 7 EStG ist daher nach hier vertretener Ansicht einschränkend in dem Sinne auszulegen, dass bei Erfüllung der Voraussetzungen des § 36a EStG kein Raum für § 42 AO bleibt.[4]

In der Praxis ist jedoch die Ansicht der Finanzverwaltung maßgeblich, die selbst für Zeiträume vor dem 1.1.2016 (erstmalige Anwendbarkeit der Norm, § 52 Abs. 35c S. 1 EStG, vgl. dazu auch Rz. 9a) von einer parallelen Anwendbarkeit des § 42 AO ausgeht.[5] Das Hessische FG[6] geht ebenfalls davon aus, dass § 36a EStG und § 42 AO nebeneinander anwendbar sind. In dem Fall geht es zwar um die parallele Anwendung des § 42 AO auf Zeiträume vor Inkrafttreten des § 36a EStG, d. h. vor dem 1.1.2016. Das FG führt jedoch abstrakt aus, dass der Gesetzgeber in § 36a Abs. 7 EStG den § 42 AO ausdrücklich für weiterhin anwendbar erklärt und somit zu erkennen gegeben hat, dass er mit § 36a EStG keine abschließende Regelung treffen wollte. Dabei liege es nach Ansicht des FG im Rahmen der Gesetzgebungskompetenz, bestimmte typische Gestaltungen herauszugreifen und dafür Regelungen zu treffen, ohne dadurch seine weitergehende Regelungsbefugnis für diesen Bereich einzugrenzen.[7] Damit bleibe § 42 AO nach dieser Ansicht auch dann anwendbar, wenn ein Stpfl. zwar die Anforderungen für eine Anrechnung der KapESt nach §§ 36 Abs. 2 Nr. 2, 36a Abs. 16 EStG erfüllt, dies jedoch durch rechtsmissbräuchliche Gestaltungen i. S. d. § 42 AO erreicht wird. Unklar ist, ob das FG auch von einer parallelen Anwendbarkeit auf Zeiträume ab 1.1.2016 ausgeht. Einerseits sind Zeiträume ab 2016 nicht Streitgegenstand des Urteils. Andererseits sind die Ausführungen des FG sehr verallgemeinernd. Zu kritisieren ist daher, dass das FG nicht auf die Vorschrift des § 42 Abs. 1 S. 2 AO eingeht, die ausdrücklich anordnet, dass für den Fall, dass der Tatbestand einer Regelung in einem Einzelsteuergesetz erfüllt ist, die der Verhinderung von Steuerumgehungen dient – hier § 36a EStG –, sich die Rechtsfolgen nach jener Vorschrift bestimmen, d. h. nach § 36a EStG (und nicht nach § 42 AO, wie das FG ausführt).

[1] BT-Drs. 18/8739, 100.
[2] So auch Tormöhlen, in Korn, EStG, § 36a EStG, Rz. 4; Ettlich, in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 36a EStG, Rz. 111, a. A. BMF v. 17.7.2017, IV C 1 – S 2299/16/10002, Rz. 12ff., BStBl I 2017, 986; Hessisches FG v. 28.1.2020, 4 K 890/17, EFG 2020, 1160.
[3] Ebenfalls krit. Ettlich, in Blümich, EStG/KStG/GewStG, § 36a EStG, Rz. 111.
[4] Ettlich, in Blümich, EStG/KStG/GewStG § 36a EStG, Rz. 111, a. A. Hessisches FG v. 28.1.2020, 4 K 890/17, EFG 2020, 1160.

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