Entscheidungsstichwort (Thema)

Voraussetzungen für den Verzicht auf Festsetzung von Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Unter dem Gesichtspunkt eines gerechten Ausgleichs zwischen den Geldnutzungsinteressen des Steuergläubigers und denen des Steuerpflichtigen ist es für den Regelfall angemessen, die Entscheidung über die Festsetzung von Aussetzungszinsen als automatische Folge des Verfahrensausgangs über die Steuerfestsetzung auszugestalten. Nur wenn die im Einzelfall maßgebliche materielle Steuerrechtslage ausnahmsweise so beschaffen ist, dass der Ausgang des Rechtsbehelfsverfahrens nicht mehr als Abbild der materiellen Rechtslage aufgefasst werden kann, ist der vom Gesetz gedeckte Regelfall nicht mehr gegeben und eine Einzelfallkorrektur geboten.

2. Die Nachprüfung der Ablehnung des Verzichts auf Festsetzung von Aussetzungszinsen ist auf die Prüfung beschränkt, ob die Behörde bei ihrer Entscheidung die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten oder von ihrem eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht hat. Ebenso hat das Gericht als Voraussetzung dieser Prüfung nachzuprüfen, ob das Finanzamt den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat.

3. Bei Überprüfung der Ermessensentscheidung darf das Gericht die für die Ausübung des Ermessens maßgeblichen Erwägungen, die vom Finanzamt vorzunehmen sind, nicht durch eigene Erwägungen ersetzen. Für die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Ermessensentscheidungen sind diejenigen tatsächlichen Verhältnisse maßgebend, die dem Finanzamt im Zeitpunkt der letzten Ermessensausübung – hier bei Ergehen der Einspruchsentscheidungen – bekannt waren oder bekannt sein mussten

4. Da der Gesetzgeber sich des Umstandes bewusst war, dass aus den verschiedensten Gründen Steuerforderungen verzinst wurden und werden (§§ 234 ff. AO), er aber gleichwohl eine Vollverzinsung erst für nach dem 31.12.1988 entstehende Ansprüche anordnete, läuft die Erhebung von Aussetzungszinsen für bestimmte Veranlagungszeiträume auch dann nicht den gesetzlichen Wertungen zuwider, wenn für andere Veranlagungszeiträume mangels gesetzlicher Regelung keine Zinsen auf Erstattungsbeträge zu zahlen sind.

5. Die Verzinsung eines Steueranspruchs kann im Einzelfall unbillig sein, wenn der Steuerschuldner in Kürze mit einer Steuererstattung rechnen kann, ohne dass bereits eine Aufrechnungslage besteht. Eine Verrechnungsstundung setzt voraus, dass der Steuerschuldner zur Zeit der Fälligkeit der Steuerschuld seinen Gegenanspruch bereits nach Grund und Höhe rechtlich und tatsächlich darlegt und dass dieser zeitnah fällig wird. Eine ungewisse Aussicht auf eine Steuererstattung ist nicht ausreichend. Der Steuererstattungsanspruch muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit alsbald entstehen.

 

Normenkette

EStG § 6b; AO §§ 233a, 234, 237

 

Nachgehend

BFH (Beschluss vom 12.04.2018; Aktenzeichen X B 144, 145/17)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob der Beklagte verpflichtet ist, auf Aussetzungszinsen zur Einkommensteuer 1985 und 1987 zu verzichten.

Die Klägerin und ihr zwischenzeitlich verstorbener Ehemann, Herr Kl2, wurden in den Jahren 1984 bis 1988 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielten unter anderem Einkünfte aus Gewerbebetrieb (Holding, Grundstücksverwaltung) und aus Vermietung und Verpachtung. Erben nach Kl2 sind die Klägerin, Kl3, Kl4 und Kl5.

Die Einkommensteuer für die Jahre 1984 bis 1987 wurde vom Finanzamt zunächst wie folgt unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt:

VZ

Bescheid vom

festgesetzte ESt

Nachzahlung (+) o. Erstattung (-) in DM

Nachzahlung (+) o. Erstattung (-) in €

1984

02.06.1986

1.212.584 DM

- 772.296

- 394.868,67

1985

10.07.1987

444.972 DM

- 2.181.802

- 1.115.537,65

1986

20.06.1988

1.689.906 DM

+ 1.287.034

+ 658.050,04

1987

16.08.1989

3.370.282 DM

- 282.885

- 146.170,68

Nach einer Außenprüfung erließ das Finanzamt am 19.04.1995 geänderte Einkommensteuerbescheide für die Jahre 1984 bis 1987. Der Vorbehalt der Nachprüfung wurde jeweils aufgehoben.

Es ergaben sich folgende Erstattungen bzw. Nachzahlungen:

VZ

Bescheid vom

festgesetzte ESt (in DM)

Nachzahlung (+) o. Erstattung (-) in DM

Nachzahlung (+) o. Erstattung (-) in €

1984

19.04.1995

1.086.422

- 241.221

- 123.334,34

1985

19.04.1995

1.626.206

+ 1.064.417

+ 544.227,77

1986

19.04.1995

1.596.888

- 170.855

- 87.356,77

1987

19.04.1995

4.222.264

+ 761.801

+ 389.502,67

Gegen die Bescheide für 1984 bis 1987 legten die Kläger mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 11.05.1995 jeweils Einspruch ein und beantragten für die Nachzahlungen aus den Jahren 1985 und 1987 in voller Höhe Aussetzung der Vollziehung (im Folgenden: AdV) zu gewähren. Die Einspruchsverfahren sollten ruhen bis das Rechtsbehelfsverfahren zur Umsatzsteuer 1984 abgeschlossen sei.

Außerdem baten die Steuerpflichtigen mit Schreiben des Prozessbevollmächtigten vom 12.05.1995 unter Hinweis auf ihre AdV-Anträge fü...

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