Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeldberechtigung eines in Deutschland selbständig tätigen Elternteils bei Haushaltsaufnahme des Kindes beim anderen Elternteil in Polen unter Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Dem Kindergeldanspruch eines in Deutschland selbständig Erwerbstätigen für sein in Polen bei der Kindsmutter lebendes Kind steht nicht bereits § 64 Abs. 2 EStG entgegen, wenn die Mutter nicht selbst die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllt (vgl. insoweit zutreffend FG Rheinland-Pfalz Urteil v. 23.3.2011, 2 K 2248/10).

2. Art. 68 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 setzt das Zusammentreffen von Ansprüchen für dieselben Familienangehörigen für denselben Zeitraum voraus. Eine solche Anspruchskonkurrenz ist nicht gegeben, wenn der in Polen lebenden Kindsmutter für den betreffenden Zeitraum wegen Überschreitens der Einkommensgrenze nach den Bestimmungen des polnischen Kindergeldrechts kein Anspruch auf polnische Familienleistungen zusteht.

3. War die in Polen lebende Kindsmutter im betreffenden Zeitraum nicht beschäftigt bzw. selbständig erwerbstätig, ist der Anspruch des in Deutschland lebenden und erwerbstätigen Kindsvaters nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vorrangig. In diesem Fall müsste der Kindsvater das Kindergeld in voller Höhe erhalten.

4. War die in Polen lebende Kindsmutter hingegen im betreffenden Zeitraum in Polen beschäftigt bzw. selbständig erwerbstätig, ist ihr Anspruch nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Unterabsatz i Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vorrangig, weil das Kind in Polen lebt. Nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ist jedoch dann nach deutschem Recht ein Unterschiedsbetrag zu gewähren, wenn der Leistungsanspruch in Deutschland durch die selbständige Erwerbstätigkeit ausgelöst wird.

 

Normenkette

EStG § 64 Abs. 2, § 62 Abs. 1; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. a; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 1 Buchst. b; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 2 S. 2; EGV 883/2004 Art. 68 Abs. 2 S. 3; EGV 883/2004 Art. 11 Abs. 1, 3 Buchst. a, Art. 67; EWGV 1408/71 Art. 73; EGV 987/2009 Art. 58; BKGG § 3 Abs. 2 S. 1, § 1

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 13.04.2016; Aktenzeichen III R 86/11)

BFH (Urteil vom 13.04.2016; Aktenzeichen III R 86/11)

 

Tenor

1. Der Bescheid über die Ablehnung der Festsetzung von Kindergeld vom 2. November 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17. Januar 2011 für das Kind T wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger für das Kind für den Zeitraum Mai 2010 bis Januar 2011 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

2. Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.

3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

4. Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

I.

Streitig ist, ob der Kläger für sein Kind T, geb. am 7. Dezember 2005, ab Mai 2010 Anspruch auf Kindergeld hat.

Der Kläger, der polnischer Staatsangehöriger ist, wohnt seit 1984 in Deutschland und ist nach der bei den Akten liegenden Zweitschrift der Gewerbeanmeldung vom 10. November 2008 jedenfalls seit 1. Juni 2005 als selbständiger, nicht sozialversicherungspflichtiger Gewerbetreibender tätig.

Die Kindsmutter wohnt mit T in Polen und übte ausweislich der Angaben der polnischen Sozialbehörde im Vordruck E 411 vom 19. Juli 2010 seit 1. Oktober 2007 eine berufliche Tätigkeit aus (oder hat sich in gleichgestellten Verhältnissen im Sinne des Beschlusses Nr. 119 vom 24. Februar 1983 der Verwaltungskommission der Europäischen Gemeinschaften für die soziale Sicherheit der Wanderarbeiter, Amtsblatt der Europäischen Union – ABl. EU – C 295 vom 2. November 1983, S. 3, – berufliche Tätigkeit – befunden). Einen Antrag auf Kindergeld stellte die Kindsmutter in Polen nicht. Nach den Angaben des Klägers war die Kindsmutter als Architektin in Polen tätig und ihr Einkommen überschritt im Streitzeitraum die für die Gewährung von polnischen Familienleistungen maßgebliche Grenze des Pro-Kopf-Familieneinkommens pro Monat von 504 PLN.

Mit Bescheid vom 2. November 2010 hatte die Beklagte (die Familienkasse) den Antrag auf Kindergeld für T für die Zeit ab Mai 2010 mit der Begründung abgelehnt, dass die Mutter T in ihren Haushalt aufgenommen habe und somit nach § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig Anspruch auf Kindergeld habe. Ab Mai 2010 seien die Vorschriften der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit [VO (EG) Nr. 883/2004] anzuwenden. Danach sei der Kindergeldanspruch jeweils nach dem nationalen Kindergeldrecht des EU-Staates zu beurteilen, dessen Rechtsvorschriften vorrangig anzuwenden seien. Dies seien im Fall des Klägers die deutschen Vorschriften, nach denen...

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