Entscheidungsstichwort (Thema)

Fortdauer des Anspruchs bei ins Ausland entführtem Kind

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Kindergeldanspruch besteht für ein widerrechtlich ins Ausland entführtes Kind im Umkehrschluß aus § 9 Abs. 2 AO noch 6 Monate weiter, soweit nicht schon vorher Anhaltspunkte für die Aussichtslosigkeit der Rückkehrbemühungen des kindergeldberechtigten Elternteils ergeben. Die Frage nach dem Wohnsitz des Kindes ist aus der Perspektive zum Zeitpunkt der Entführung zu beurteilen.

 

Normenkette

AO 1977 § 8; AO § 9 S. 2; EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 S. 3, § 64 Abs. 2, 3 S. 1, § 70 Abs. 2; GG Art. 6

 

Nachgehend

BFH (Urteil vom 30.10.2002; Aktenzeichen VIII R 86/00)

 

Tatbestand

Streitig ist die Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung für ein Kind, das widerrechtlich in die Türkei entführt worden ist.

Bis einschließlich Dezember 1997 bezog die Klägerin Kindergeld für ihren am ….01.1992 geborenen Sohn. Mit Schreiben vom 17.09.1997 teilte die Klägerin dem Beklagten mit, daß ihr Ehemann, von welchem sie seit Februar 1997 getrennt lebte, mit ihrem Einverständnis den Sohn für einen vierwöchigen Urlaub in die Türkei mitgenommen habe. Obwohl sie aufgrund eines Beschlusses des Amtsgerichts A. das vorläufige Aufenthaltsbestimmungsrecht während des Getrenntlebens bis zur Scheidung zugesprochen bekommen habe, halte ihr Ehemann das Kind gegen seinen Willen in der Türkei fest. Da die Klägerin auf mehrmalige Anfragen des Beklagten hinsichtlich der Rückkehr des Kindes nach Deutschland nicht reagierte, hob dieser mit Bescheid vom 20.07.1998 die Kindergeldfestsetzung für die Monate August bis Dezember 1997 auf und forderte den Betrag von 1.100,00 DM zurück. Dieser Bescheid wurde der Klägerin erstmalig mit Schreiben vom 20.04.1999 bekannt gegeben. Der Beklagte begründete die Aufhebung damit, daß der Sohn keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt mehr im Inland habe.

Aufgrund des hiergegen eingelegten Einspruchs ging der Beklagte davon aus, daß noch während des vierwöchigen Urlaubs auch im August 1997 der Wille des Kindesvaters bestanden habe, mit dem Kind nach Deutschland zurückzukehren. Deshalb sei Kindergeld auch noch für August 1997 zu gewähren. Im übrigen wies er den Einspruch mit Entscheidung vom 23.11.1999 als unbegründet zurück, weil der Sohn ab September 1997 keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt mehr in Deutschland gehabe habe. Gleichzeitig hob er die Kindergeldfestsetzung ab Januar 1998 auf; eine Rückforderung kam insoweit nicht in Betracht, weil ab diesem Zeitpunkt kein Kindergeld mehr gezahlt worden war.

Mit der hiergegen erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, daß sie aufgrund des Beschlusses des Amtsgerichts A. vorläufig das Aufenthaltsbestimmungsrecht für ihren Sohn zugesprochen bekommen habe. Gleichfalls sei ihr mit Urteil des Amtsgerichts A. vom 05.06.1998, aufgrund dessen ihre Ehe mit dem Kindesvater geschieden worden war, die elterliche Sorge für den Sohn übertragen worden. Erst auf die Beschwerde des Kindervaters hin habe das OLG … mit Beschluß vom 24.08.1999 die elterliche Sorge auf den Kindesvater übertragen.

Ihr Sohn habe sowohl im Jahre 1997 als auch später noch sowohl seinen Wohnsitz als auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt. Nach § 8 AO habe jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung innehabe, die er behalten und benutzen wolle. Ihr Sohn habe bis in jüngste Zeit hinein seine Wohnung bei ihr – der Klägerin – gehabt, dort stehe sein Bett und sein Spielzeug. Außerdem habe er nach § 9 AO seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt. Soweit es nach dieser Vorschrift darauf ankomme, ob Umstände vorlägen, die erkennen ließen, daß er sich in der Türkei nicht nur vorübergehend aufhalte, sei auf den Willen des Aufenthaltbestimmungsberechtigten abzustellen. Es könne kein Zweifel daran bestehen, daß sie den Willen gehabt habe, ihr Kind in Deutschland bei sich zu haben.

Die Auffassung des Beklagten würde dazu führen, daß ein entführtes Kind ab dem Zeitpunkt seiner Entführung seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner Familie verliere. Solange ein Kind entgegen geltendem Recht von seinem Wohnsitz gezwungenermaßen ferngehalten werde, könne es diesen nicht verlieren.

Zu beachten sei auch, daß die Entziehung des Kindergeldes bei Kindesentführung den grundrechtlich garantierten Schutz des Elternrechtes beeinträchtige.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des beklagten Arbeitsamtes vom 20.07.1998 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 23.11.1999 aufzuheben, soweit der Zeitraum bis zum 31.03.1998 betroffen ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, daß die Klägerin nach § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG keinen Anspruch auf Kindergeld habe, weil das Kind zumindest ab September 1997 weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland gehabt habe. Der Wohnsitz sei der räumliche Schwerpunkt der gesamten Lebensinteressen einer natürlichen Person und damit der Lebensmittelpunkt. Das Wesen des Wohnsitzes im steuerrechtlichen Sinne bestehe mith...

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